Berlin. Das Referendum am 16. April in der Türkei ist nicht nur eine Abstimmung über das Präsidialsystem. Schon jetzt geht es um Wirtschaft.

Der Gesprächspartner wirkt nervös. Immer wieder sieht er sich um. Wir sitzen in einem betriebsamen Bistro am Rand des Taksim-Platzes. „Meinen Namen möchte ich auf keinen Fall in der Zeitung lesen“, sagt der Mann eindringlich. Das war seine Bedingung für das Treffen. Er möchte Mehmet genannt werden, ein unverfänglicher Name. 2006 gründete Mehmet mit einem Partner im asiatischen Teil Istanbuls ein Zulieferunternehmen für die boomende türkische Automobilindustrie.

„Anfangs lief es glänzend, 2012 war unser Rekordjahr“, erzählt Mehmet. „Aber seit 2013 schwächelt die Wirtschaft – erst die landesweiten Proteste gegen Erdogan, dann die Ungewissheit des Doppelwahljahres 2015, der Putschversuch vom Juli 2016 und nun das Verfassungsreferendum“.

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    Mehr als 8550 Firmen verstaatlicht

    In dieser angespannten Atmosphäre will sich kaum ein Wirtschaftsvertreter zu politischen Themen äußern, nicht einmal im Schutz der Anonymität. Mehr als 850 Firmen ließ Erdogan bereits verstaatlichen, weil ihre Inhaber verdächtigt werden, Verbindungen zu seinem Widersacher Fethullah Gülen zu haben. Über 134.000 Staatsdiener wurden entlassen. Die „Säuberungen“ verfehlen ihre einschüchternde Wirkung nicht. „Wir Unternehmer stehen vor einem Dilemma“, sagt Mehmet.

    Einerseits könne er als überzeugter Demokrat Erdogans Pläne für ein autoritäres Regierungsmodell nicht gutheißen, sagt er. Andererseits könnte ein Nein beim Verfassungsreferendum zu neuen Repressalien und wirtschaftlichen Turbulenzen führen. „Ein Ja wäre das kleinere Übel“, sagt der Firmenchef, „dann wüssten wir wenigstens, woran wir sind“. So denken viele Unternehmer.

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      Türkei will in Liga größter Wirtschaftsnationen mitspielen

      „Bei einem Ja ist eine Stabilisierung zu erwarten, die politische Zukunft für Unternehmen wird kalkulierbarer“, sagt Gregor Holek, Fondsmanager bei Raiffeisen Capital Management. „Ein Nein würde Unternehmen und Finanzmärkte sicher weiter verunsichern“, meint der Türkei-Experte Holek. Eine weit verbreitete Befürchtung: Bei einem Nein könnte Erdogan in der Hoffnung auf eine breitere Mehrheit Neuwahlen herbeiführen. Ein weiterer Wahlkampf würde die innenpolitische Polarisierung weiter vertiefen und die Wirtschaft lähmen.

      Erdogan will die Türkei bis 2023 in die Liga der zehn weltgrößten Wirtschaftsnationen führen. Dazu brauche er das Präsidialsystem, argumentiert der Staatschef. Ob das versprochene Wirtschaftswunder wahr wird? „Wir kennen zwar die 18 Artikel der Verfassungsänderung, aber niemand weiß, wie das Präsidialsystem in der Praxis funktionieren wird“, sagt Zümüt Imamoglu, Chefökonomin beim türkischen Industrieverband Tüsiad.

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        Europäische Perspektive lockte Investoren an

        „Die ausländischen Investoren warten deshalb ab“, berichtete Imamoglu im Gespräch mit unserer Redaktion. Tatsächlich gingen die ausländischen Direktinvestitionen im vergangenen Jahr um ein Drittel zurück. „Die deutschen Unternehmen verlassen das Land zwar nicht, aber sie investieren nicht neu“, sagt Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Die Anfragen bei der deutsch-türkischen Handelskammer von Unternehmen, die neu in die Türkei wollen, hätten sich zuletzt halbiert, sagt Treier. „Neue deutsche Investoren bleiben fern.“

        Ob die Türkei wieder attraktiv wird für ausländische Investoren, dürfte vor allem von den künftigen Beziehungen des Landes zur EU abhängen. Die europäische Perspektive hatte in den 2000er Jahren viel Investitionskapital in die Türkei gelockt. Erdogans Ankündigung, die Türken nach dem Vorbild des Brexit-Referendums über einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen abstimmen zu lassen, wirkt da eher kontraproduktiv. „Die Türkei darf die Brücken zu Europa nicht abbrechen“, mahnt Tüsiad-Chefökonomin Imamoglu: „Die EU ist der wichtigste Anker für die Türkei – ökonomisch, aber auch hinsichtlich der demokratischen Werte.“