Berlin. Der türkische Delegationsleiter erhebt bei der OSZE schwere Vorwürfe gegen EU-Staaten. Auch Deutschland steht dabei mit im Fokus.

Es sind scharfe Worte Richtung Europa – erneut. Und eine Stufe noch oben auf der Leiter der Eskalation im Verhältnis der türkischen Regierung zu den europäischen Staaten. Europa solle „auf den Weg der Demokratie“ zurückkehren, schreibt Vedat Bilgin. Der türkische Diplomat leitet die Delegation seines Landes bei der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Er reagiert damit auf die Auftrittsverbote türkischer Politiker in mehreren EU-Staaten, auch in Deutschland. Die EU dürfe nicht dem „Druck von Fremdenfeindlichkeit und Radikalisierung“ erliegen, schreibt Bilgin in einem Brief an die fast 60 Leiterinnen und Leiter der anderen Delegationen bei der OSZE. Der Brief liegt unserer Redaktion vor.

Niederlande hätten „Regeln der Diplomatie“ verletzt

Vor allem den Niederlanden macht Bilgin als Vertreter schwere Vorwürfe. Das Verbot der Einreise der türkischen Familienministerin Mitte März sei „anti-demokratisch“. Die Niederlande hätten „internationale Regeln der Diplomatie“ verletzt und gegen die Europäische Menschenrechts-Konvention verstoßen. So sieht Bilgin es.

Die türkische Ministerin wollte, wie mehrere andere hochrangige Politiker aus der Türkei auch, für ein Präsidialsystem unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan werben. Mitte April stimmen die Menschen in der Türkei darüber in einem umstrittenen Referendum ab. Erdogan bekäme deutlich mehr Macht, das Parlament deutlich weniger Einfluss. Auch rund drei Millionen türkische Staatsbürger in EU-Staaten dürfen abstimmen – für die Erdogan-Regierung eine wichtige Wählerklientel. In Deutschland wurden mehrfach Wahlkampf-Auftritte türkischer Politiker untersagt – offiziell meist aus Sicherheitsgründen oder Brandschutzgründen.

Kritik an der Politik der Türkei

In den vergangenen Monaten wuchs die internationale Kritik an Maßnahmen der türkischen Regierung gegen Journalisten und Oppositionelle. Nach dem gescheiterten Putschversuch inhaftierte die Regierung mehrere Zehntausend Kritiker, darunter Lehrer, Professoren und Polizisten. Vor allem die Inhaftierung des „Welt“-Journalisten Deniz Yücel belastet derzeit das deutsch-türkische Verhältnis.

Seit rund einem Monat sitzt der Reporter in Untersuchungshaft. Trotz massiver Protesten aus Deutschland wurde bisher eine Freilassung abgelehnt. Die Anwälte von Yücel haben inzwischen einen Widerspruch gegen die Untersuchungshaft vor dem türkischen Verfassungsgericht eingelegt. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte vergangene Woche bei einer Rede die Freilassung gefordert.

Gabriel für Dialog mit der Türkei

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    CDU-Politiker übt Kritik an türkischer Regierung

    Auch an den CDU-Bundestagsabgeordneten Jürgen Klimke ging der Brandbrief. Der Hamburger Politiker ist stellvertretender Leiter der deutschen Delegation in der Vertretung der OSZE, der 323 Parlamentarier angehören. Klimke reagierte „irritiert“ auf das Schreiben von Bilgin. „Aber das passt leider zum zunehmend irrationalen Verhalten der türkischen Verantwortlichen im Vorfeld des Verfassungsreferendums“, sagte Klimke dieser Redaktion. Die türkische Regierung müsse sich fragen lassen, ob sie „mit ihrem Pochen auf die Durchführung von Wahlkampfauftritten nicht gezielt provozieren wollte, um die erzeugte Empörung für eigene Zwecke zu nutzen“, so Klimke.

    Der CDU-Politiker hat nun ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags in Auftrag gegeben, das diese Redaktion einsehen konnte. Das Urteil ist eindeutig: Völkerrecht und die deutsche Verfassung geben der Bundesregierung das Recht, ausländischen Regierungsmitgliedern die Einreise für Wahlkampfauftritte zu verbieten. Dies sei „Ermessensentscheidung“ zur Pflege auswärtiger Beziehungen, heißt es in Artikel 32 des Grundgesetzes. Jeder Staat habe die „Kompetenz“ über Auftritte ausländischer Politiker auf dem eigenen Territorium zu entscheiden.

    Gerade weil das Referendum Ziele verfolge, die der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung entgegenstünden. „Das Werben für eine autoritäre Staatsform, auch wenn diese im Ausland verwirklicht werden soll, steht den Werten des Grundgesetzes entgegen“, heißt es in dem Gutachten.

    Verfassungsgericht: Deutsche Regierung kann über Auftritte entscheiden

    Auch das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidungskompetenz der Bundesregierung in solchen Fällen in einem Urteil Anfang März hervor. Die türkischen Politiker versuchten nach verhängten Auftrittsverboten dann als „Privatperson“ in EU-Staaten einzureisen. Doch das schränke die Macht der Bundesregierung nicht ein, dem ausländischen Regierungsvertreter die Einreise zu verbieten. Wer als Politiker aktiv ist, könne eine Einreise nicht einfach als „Privatmann“ umgehen.

    Präsident Erdogan hatte nach dem Einreiseverbot durch die niederländische Regierung angekündigt, dass der türkische Außenminister und die Familienministerin würden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR) klagen. Doch die Wissenschaftler des Bundestags kommen auch hier zu einem eindeutigen Urteil. Im Raum stehe nicht, die Einschränkung der Meinungsfreiheit türkischer Regierungsvertreter durch die Niederlande – sondern lediglich die Verweigerung der Einreise.

    Sogar türkisches Wahlgesetz verbietet Auftritte im Ausland

    Nach den Auftrittsverboten etwa in den Niederlanden und Deutschland hatte Erdogan schwere Vorwürfe erhoben. „Ihr seid Faschisten. Ihr mit Euren Nazi-Praktiken könnt so verärgert sein wie Ihr wollt“, sagte der türkische Präsident etwa in Richtung Deutschland. Nach den heftigen Attacken gehen nun auch deutsche Politiker in die Offensive. Linksfraktionschefin Sarah Wagenknecht bezeichnete Erdogan gar als „Terroristen“.

    Dabei bezog sie sich am Montag bei einer Veranstaltung auf einen Satz, den Erdogan vor wenigen Tagen in Ankara gesagt hat: „Wenn ihr euch weiterhin so benehmt, wird morgen kein einziger Europäer, kein einziger Westler auch nur irgendwo auf der Welt sicher und beruhigt einen Schritt auf die Straße setzen können.“ Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) warf der türkischen Führung zum Auftakt des türkischen Verfassungsreferendums in Deutschland einen Putschversuch gegen die Demokratie vor. Was Erdogan und die türkische Regierung planten, sei die „Umwandlung einer zweifellos fragilen, aber demokratischen Ordnung in ein autoritäres System“, sagte Lammert.

    Pikant an dem Gutachten ist: Es stellt fest, dass Wahlkampfauftritte türkischer Politiker um Ausland und in den diplomatischen Vertretungen außerhalb der Türkei sogar verboten sind – und zwar nach Artikel 94/A des türkischen Wahlgesetzes.

    (Mitarbeit: Leon Scherfig)