Essen/Amsterdam. Wilders oder Rutte: Wer profitiert von der Krise mit der Türkei? Nach der Wahl am Mittwoch droht eine komplizierte Regierungsbildung.

Für türkische Wahlkämpfer war am Wochenende in den Niederlanden kein Platz. Als Wahlkampfthema taugten sie wohl. Denn der Wahlkampf liegt dort im Endspurt, morgen entscheiden die Bürger über ein neues Parlament. Indem er die Minister aus Ankara kühl ab- und auswies, zeigte sich der noch amtierende Ministerpräsident Mark Rutte für einen Niederländer erstaunlich kompromisslos – dabei wird es nach der Wahl vor allem auf Kompromisse ankommen.

Mindestens die Hälfte der Wähler hat sich noch nicht entschieden, für wen sie auf dem langen Wahlzettel einen roten Kringel malen werden. 28 Parteien haben sie zur Auswahl, einen klaren Favoriten gibt es nicht. Bis zu 14 Gruppierungen könnten es auf die 150 Sitze der Zweiten Kammer in Den Haag schaffen. Fünf Parteien liegen nach jüngsten Umfragen bei mehr als zehn Prozent, die führende kratzte am Sonntag gerade an der 16-Prozent-Marke. Schon deshalb könnte der Streit mit der Türkei mehr sein als ein diplomatischer Disput: das Zünglein an der Waage.

Es geht den Menschen bei dieser Wahl um ihre Identität

Vor allem bringt er neues Feuer in einen Zweikampf, der zuletzt an Kraft verloren hatte: den zwischen Rutte (50) und seiner Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) und Geert Wilders (53), Vorsitzender, Fraktionschef und einziges Mitglied der Freiheitspartei (PVV). Der eher bedächtige, smarte Europäer gegen den blondierten, polternden Rechtsaußen; der Straßenwahlkämpfer gegen den Mann, der lieber nur twittert hinter seinem Schutzwall aus Leibwächtern. Mark Rutte selbst hatte dieses Duell herausgefordert. Geert Wilders aber spielte nicht mit: Allein Montagabend, in einer einzigen TV-Debatte die er zuließ, ging er seinen Gegenspieler persönlich an.

Dabei gibt es Publikum in ganz Europa: Die Wahl in den Niederlanden ist die erste in diesem von rechten Kräften als „patriotisch“ ausgerufenen Wahljahr. Wie schlägt sich Wilders, politischer Freund der Französin Le Pen und der Deutschen Petry, der Mann, der Grenzen und Moscheen schließen, die EU verlassen und vergessen will? Der mit seinen sozialpolitischen Forderungen nach mehr Geld für Rente und Pflege aber auch die Globalisierungsängstigen erreicht? Wird Wilders, der den amerikanischen Präsidenten offen bewundert und „Die Niederlande wieder unser“ ruft, ein neuer Trump in klein gleich nebenan?

Im Dezember lag Wilders’ Partei in den Umfragen vorn

Seine Umfrageergebnisse haben das lange ahnen lassen. Noch im Dezember, da war der Parteichef gerade wegen Anstiftung zur Rassendiskriminierung verurteilt worden, führte seine PVV in der Wählergunst. Bis zu ein Fünftel der Sitze hätte er damals erreichen können. Doch seit Jahresbeginn schrumpft der Vorsprung; Anfang März lagen PVV und VVD etwa gleichauf, in der letzten Sonntagsfrage fielen die Freiheitlichen auf 13 Prozent zurück (Volkspartei: 16 Prozent). Das reicht nicht, um den Ministerpräsidenten zu stellen. Ohnehin müssten nach derzeitigem Stand mindestens vier Parteien koalieren, um eine tragfähige Regierung zu bilden – mit Wilders aber will das, angeblich, niemand. Die Chancen stünden bei null, twitterte Mark Rutte an „Geert“: „Es. Wird. Nicht. Passieren.“

Nur, wer koaliert dann? Zwar haben die Niederländer Übung, noch keine Regierung hat je ohne einen Partner das Land führen können. Die Christdemokraten (CDA) könnten dabei sein, die auffällig den Türkeikurs Ruttes unterstützen. Die Linksliberalen der D66, die Grünen, sogar die Sozialisten. Nicht aber wohl die Sozialdemokraten: Die Arbeitspartei PvdA, kleinerer Partner in der derzeitigen Rutte-Regierung, stürzte zuletzt auf ein historisches Tief, kommt nur noch auf acht Prozent.

Niederländer sorgen sich um ihre Arbeitsplätze

Dabei sind sie an den nachweisbaren Erfolgen ja beteiligt. Das Bruttosozialprodukt ist um 2,1 Prozent gewachsen, die Arbeitslosenquote liegt mit 5,5 Prozent niedrig, Export und Wettbewerb laufen. Trotzdem sorgen sich die Menschen um ihren Arbeitsplatz, der Krankenkassenbeitrag ist gestiegen, das Renteneintrittsalter auch. Jetzt Wahlkampf zu machen mit sozialen Themen kommt bei früheren PvdA-Wählern nicht gut an. Zu den Auftrittsverboten der türkischen Minister äußerte sich der Parteivorsitzende Lodewijk Asscher zwar zustimmend, sprach aber von Erpressung: „Es ist äußerst widerlich, dass ausgerechnet wir als Nazis beschimpft werden.“ Aber auch alle anderen Parteien haben sich stramm an Ruttes Seite positioniert.

Darum ist die Wahl in den Niederlanden auch für uns spannend

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    Welchem Kandidaten könnte der Streit um die „Nederturken“ nutzen? Rutte, sagen politische Beobachter: Der habe klare Kante gezeigt und staatsmännisch gepunktet. Die Türkei hat ihm eine Bühne geboten, die er von Wilders nur noch übernehmen musste. Der konnte den abreisenden Ministern nur noch hinterher twittern: „Und kommt nie mehr zurück!“ Nur ist es gar nicht so, dass Ruttes VVD das Thema Migration erst am Wochenende entdeckt hat: Die Rechtsliberalen hatten schon vorher einen Stopp der Zuwanderung gefordert, Rutte forderte die Menschen im Land per Zeitungsanzeige auf: „Verhalte dich normal – oder geh fort.“ Ein Appell für Integration, die er als „Pflicht“ versteht.

    Das kommt an bei den Niederländern, die von ihrer grenzenlosen Liberalität seit Anfang der Nullerjahre abrücken. Es geht bei dieser Wahl nicht um die Wirtschaft, es geht den Menschen um ihre Identität: Wer sind wir, wer wollen wir sein? Auf der Suche nach einer Antwort könnten sich noch einige Millionen an allen Umfragen vorbei für den Protest entscheiden. Oder aber für den Pragmatismus. Problematisch wird eine Regierungsbildung so oder so.