Istanbul. Per Volksabstimmung soll ein Präsidialsystem in der Türkei eingeführt werden. Stimmen die Wähler zu, kann Erdogan bis 2034 regieren.

Im Laufe seiner politischen Karriere hat Recep Tayyip Erdogan bereits 13 Wahlkämpfe geführt – und alle gewonnen. Aber nie stand mehr auf dem Spiel als jetzt. Bei der Volksabstimmung am 16. April geht es für ihn um alles. Die Wähler sollen über eine Verfassungsänderung entscheiden. Das Referendum ist die wichtigste politische und gesellschaftliche Weichenstellung in der Türkei seit der Einführung des Mehrparteiensystems nach dem Zweiten Weltkrieg.

Erdogan und die islamisch-konservative Regierung wollen die parlamentarische Demokratie durch ein Präsidialsystem ersetzen. Es soll nahezu unumschränkte Macht in den Händen des Staatsoberhauptes bündeln. Das bisherige türkische Grundgesetz beschränkte ihn weitgehend auf repräsentative Aufgaben. Erdogan hatte seit seiner Wahl zum Präsidenten im August 2014 allerdings eigenmächtig viele Kompetenzen an sich gezogen. Das Präsidialsystem gibt es also eigentlich bereits, es soll jetzt nur noch legalisiert werden – Erdogan schneidert sich eine Verfassung nach Maß.

Erdogan könnte im Alleingang regieren

Nachdem das Parlament im Januar mit den Stimmen der Regierungspartei und Unterstützung von Teilen der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP die Änderungen mit Dreifünftelmehrheit billigte, haben nun die Wähler das letzte Wort. Die geplante Verfassungsänderung umfasst 18 Artikel. Die Große Nationalversammlung wird zwar von 550 auf 600 Abgeordnete erweitert, verliert aber viele ihrer Befugnisse. So kann der Präsident künftig das Land im Alleingang mit Dekreten regieren, die auch ohne Zustimmung des Parlaments Gesetzeskraft haben.

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    Damit bekäme Erdogan noch mehr Macht, als er unter dem gegenwärtigen Ausnahmezustand hat. Auch jetzt kann er Dekrete erlassen, etwa zur Entlassung Zehntausender Staatsbediensteter. Diese Erlasse müssen aber bisher nachträglich vom Parlament abgenickt werden. Diese Notwendigkeit soll unter dem neuen System entfallen. Die Nationalversammlung kann zwar Gesetze vorschlagen, der Staatspräsident hat aber die Möglichkeit, sie mit seinem Veto zu blockieren. Das Amt des Premierministers wird abgeschafft, seine Kompetenzen gehen an den Staatschef über.

    Präsident könnte Parlament auflösen

    Er kann eigenmächtig Ministerien einrichten oder abschaffen, Minister berufen oder entlassen. Die Befugnis, den Haushaltsplan auszuarbeiten, geht vom Finanzministerium auf den Präsidenten über. Er beruft seine Stellvertreter, bestimmt die Rektoren der Universitäten und hat weitgehende Befugnisse bei der Ernennung leitender Richter und Staatsanwälte. Er kann den Notstand ausrufen und das Parlament nach Gutdünken auflösen.

    Die Bestimmung der bisherigen Verfassung, wonach das Staatsoberhaupt parteipolitisch neutral zu sein hat, wird gestrichen. Der Präsident kann in Personalunion Staatschef, Regierungschef und Parteivorsitzender sein. Parlaments- und Präsidentenwahlen finden künftig gleichzeitig alle fünf Jahre statt. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der jeweilige Präsident auch im Parlament die Mehrheit hat.

    Nicht vergleichbar mit US-Präsidentschaft

    Die ersten Wahlen nach dem neuen System sollen im Herbst 2019 stattfinden. Dann laufen Erdogans gegenwärtige Amtszeit und die Legislaturperiode des Parlaments ab. Wenn die Wähler mitspielen, könnte Erdogan bis ins Jahr 2034 durchregieren. Er wäre dann 80. Der türkische Staatschef bekäme unter dem neuen System weit mehr Befugnisse als etwa die Präsidenten Frankreichs oder der USA. Der amerikanische Präsident ist zwar auch Staatsoberhaupt und Regierungschef in Personalunion.

    Seine Macht wird aber durch ein ausgeprägtes System der Gewaltenteilung begrenzt. Der Kongress als oberstes Gesetzgebungsorgan bildet ein starkes Gegengewicht zum Präsidenten. Auch kann der US-Präsident nicht gleichzeitig Parteichef sein.

    Kritiker sieht „Sultanat“ heraufziehen

    Der französische Präsident ist nicht gleichzeitig Regierungschef, auch wenn er traditionell beispielsweise in der Außenpolitik das Sagen hat. Er hat zwar gegenüber der Regierung eine bedeutende Machtfülle. So ernennt er den Ministerpräsidenten. Der kann allerdings von der Nationalversammlung durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden.

    Was Erdogan plant, ist also mit den Systemen in den USA und Frankreich nicht vergleichbar, sondern erinnert eher an die Machtfülle mittelasiatischer oder lateinamerikanischer Staatschefs. Metin Feyzioglu, der Präsident der türkischen Anwaltskammer, fürchtet, dass der Systemwechsel zu „Instabilität und Chaos“ führen werde. Er sieht in der Türkei ein neues „Sultanat“ heraufziehen. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, Chef der säkularen Republikanischen Volkspartei, sieht die Türkei auf dem Weg in eine „Katastrophe“.

    Ausgang der Volksabstimmung

    „Das Parlament hat seine eigene Autorität preisgegeben und seine Geschichte verraten“, klagt Kilicdaroglu. Er will nun einen „Kampf für die Demokratie“ führen: „Der Fehler, den das Parlament begangen hat, kann vom Volk korrigiert werden.“ Er sei sich „zu 100 Prozent sicher“, dass die Wähler in dem Referendum Nein zu der Verfassungsänderung sagen würden, sagt Kilicdaroglu.

    Wie werden die Wähler entscheiden? Die Meinungsumfragen lassen bisher keine Prognose auf den Ausgang der Volksabstimmung zu. Mal liegen die Befürworter des Präsidialsystems knapp vorn, mal die Gegner. Der Anteil der Unentschiedenen ist immer noch sehr hoch. Je nach Umfrage schwankt er zwischen zehn und 20 Prozent.

    Kein Wunder, dass Erdogan und die Regierung jetzt um jede Stimme kämpfen – auch in Deutschland, wo der Staatschef unter den 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken besonders viele Anhänger hat. Bei der Präsidentenwahl 2014 kam Erdogan in Deutschland auf fast 69 Prozent der Stimmen, gegenüber 52,2 Prozent im eigenen Land.