Berlin. Das deutsche Schulsystem schließt arme Kinder aus. Wenn den Familien das Geld fehlt, leidet die Bildung darunter. Das muss sich ändern.

Den Mittel- und Oberschichtskindern geht es vergleichsweise gut in Deutschland. Sie haben Eltern, die sie durch die Schullaufbahn hieven, sie erweitern ihren Horizont auf Reisen, sie gehen ins Theater und in den Zoo, sind Mitglied im Sportverein und lernen ein Musikinstrument.

Lehrer in Mittelschichtsgegenden können darauf bauen. Sie wissen, wenn Siebtklässler ein Referat auf Englisch über ihr Hobby halten sollen, dass die Kinder ein Hobby haben und die Eltern ihnen helfen können. Es ist wohl das Selbstverständnis der Gesellschaft, in der die Keimzelle Familie bei der Bewältigung des Schulalltags mehr oder weniger auf eigenen Füßen steht.

Tragisch wird es dann, wenn die Familie das nicht schafft. Wenn das Geld fehlt für den Fußballverein und die Sprach- und Mathekenntnisse für die Unterstützung der Kinder nicht reichen. Wenn Nachmittage vor dem Computer verbracht werden. Der Alltag einer Halbtagsschule, die in vielen Bundesländern immer noch eher die Regel ist, nimmt darauf bei Weitem nicht genügend Rücksicht.

Kinder aus armen Familien haben geringere Chancen

Dass Kinder aus bildungsfernen und armen Familien in Deutschland viel weniger Chancen auf einen guten Schulabschluss haben, ist den Verantwortlichen in den Bundesländern längst bewusst. So setzt die Politik auf die Ganztagsschule, die Kinder aus ihrem stumpfsinnigen Alltag reißen soll. Mehr Sport, mehr Kreativität, mehr Unterstützung direkt in der Schule soll das Allheilmittel sein.

Tatsächlich zeigt der Chancenspiegel der Bertelsmann Stiftung in Ländern mit vielen Ganztagsschulen eine leichte Entspannung der dramatischen Bildungsungerechtigkeit in Deutschland auf. Auch die OECD, die seit Jahren die Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom Elternhaus beklagt, sieht Fortschritte.

In Bayern besuchen wenige Schüler die Ganztagsschule

Doch der Ausbau ist schleppend. Selbst in Berlin, wo es erfreulich viele Ganztagsschulen gibt, ist es nicht selbstverständlich, ein Gymnasium mit einem fördernden Programm am Nachmittag in der Nähe zu finden. Obendrein ist in der Hauptstadt der Anteil der Jugendlichen, die eine Schule ohne Abschluss verlassen, vergleichsweise hoch und das Leistungsniveau insgesamt niedrig.

Allerdings hat Berlin auch die schwere Aufgabe, viel mehr Kinder aus bildungsfernen Familien zu fördern. Doch der politische Wille ist im Prinzip da – anders als in westdeutschen Flächenländern. Dort agieren vor allem konservative Regierungen gehemmt, da sie sich sorgen, sie könnten durch den Ausbau von Ganztagsschulen die Wahlfreiheit von Familien einschränken und somit Wähler verprellen. So besuchen in Bayern nur 15 Prozent der Schüler eine Ganztagsschule.

Schulsystem ist auf Bedürfnisse der Mittelschicht zugeschnitten

Tatsächlich ist das bisherige Schulsystem auf die Bedürfnisse der Mittelschicht zugeschnitten, in der es selbstverständlich ist, dass etwa die Mütter Teilzeit arbeiten und somit die Kapazität haben, die Kinder ausreichend zu unterstützen. Nur in Österreich und den Niederlanden arbeiten noch mehr Frauen Teilzeit. Das Geld reicht in den Familien trotzdem – auch, weil das Lohnniveau im europäischen Vergleich stimmt. In anderen Ländern stellt sich gar nicht die Frage nach Teilzeit: Dort ist die Mittelschicht auf zwei Vollzeitjobs angewiesen.

Dass in Deutschland arme Kinder so häufig abgehängt werden, ist also auch ein Wohlstandsproblem. Denn die Mehrheit kommt klar mit eigenen Bordmitteln und lebt ein Familienmodell, in dem sie die Erziehung und Bildung selbst in die Hand nehmen wollen. Diese Kompetenz geben sie auch nicht aus der Hand, wenn die Kinder eine Ganztagsschule besuchen. Diese Stärke, dieses Selbstverständnis der Mittelschicht ist die Schwäche der bildungsfernen Familien.