Kirow. Kreml-Gegner Alexej Nawalny muss nach einer erneuten Verurteilung um seine Teilnahme an der russischen Präsidentschaftswahl fürchten.

Richter Alexej Bjurin, in schwarzer Robe, mit blass-blondem Schopf und faltenfreier Stirn, leiert die 25-seitige Urteilsbegründung herunter wie Verse aus dem Alten Testament. Der Angeklagte Alexej Nawalny langweilt sich, obwohl er gerade erst schuldig gesprochen wurde. Der Saal wartet darauf, dass der Richter am Ende – wie in russischen Prozessen üblich – das Strafmaß verkünden würde. Nawalny amüsiert sich per Twitter, das Urteil entspräche komplett dem vom Juni 2013, als er und sein Mitangeklagter Pjotr Ofizerow zum ersten Mal als Holzdiebe verurteilt worden waren: „Lächerlich, selbst die Zeugenaussagen sind wortwörtlich aus dem vorigen Urteil genommen. Obwohl die Zeugen diesmal etwas anderes gesagt haben.“

Tatsächlich wirkt der zweite Kirower Prozess gegen Nawalny und Ofizerow wie eine etwas hastige Kopie des ersten. Wieder schließt sich das Gericht den Argumenten der Staatsanwaltschaft an: Nawalny und sein Geschäftsfreund Ofizerow hätten den Staatsbetrieb „Kirowles“ genötigt, einer von Ofizerow gegründeten Firma 10.000 Kubikmeter Holz zu Dumpingpreisen zu verkaufen und dabei um umgerechnet 250.000 Euro betrogen. Wieder bestreiten beide Angeklagte ihre Schuld.

Nach russischem Wahlrecht darf Nawalny nun 2018 nicht antreten

Und wie 2013 erhält Nawalny am Ende fünf Jahre Haft auf Bewährung. Für russische Verhältnisse fast so glimpflich wie ein Freispruch. Aber nach dem russischen Wahlrecht bedeutet dieser Schuldspruch vermutlich auch, dass Nawalny erst zehn Jahre nach Ablauf seiner Strafe bei Präsidentschaftswahlen antreten darf. Dabei hatte der sich schon im Dezember als Wladimir Putins Gegenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen 2018 präsentiert, eröffnete Wahlkampfbüros in Sankt Petersburg und Sibirien. „Das war ein Telegramm aus dem Kreml, in dem sie mich, mein Team und alle Gleichgesinnten für zu gefährlich halten, um mich zu den Wahlen zuzulassen“, erklärt Nawalny. Aber der Wahlkampf gehe weiter, das Urteil werde man bis zu den Wahlen erfolgreich anfechten.

„Dieses Wiederholungsurteil ist ungesetzlich“, sagt der bekannte Rechtsanwalt Mark Fejgin unserer Zeitung. Aber Nawalny müsse in Berufung gehen, durch alle Instanzen, es dauere zu lange, bis das Europäische Menschenrechtsgericht das Urteil erneut aufhebt. „Diese Wahlen werden ohne Nawalny stattfinden.“ Nawalnys Anwältin Olga Michailowa allerdings sagt der Agentur Interfax, laut Verfassung dürften sich alle Bürger wählen lassen, die nicht in Haft sitzen. „Die Gesetze kollidieren.“

Der Kreml fürchtet eine miserable Wahlbeteiligung

In Moskau wird jetzt spekuliert, ob der Kreml vielleicht doch ein juristisches Fenster öffnet, um Nawalny die Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen zu ermöglichen. Ähnlich wie 2013. Damals kandidierte der nationalliberale Politiker wenige Tage nach seiner ersten Verurteilung in Kirow bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau und gewann sensationell über 27 Prozent. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft völlig überraschend eine Aussetzung seiner Gefängnisstrafe bis zur Berufungsverhandlung beantragt, die dem Oppositionspolitiker seine Kandidatur erlaubte. Putins übliche Gegenkandidaten wie der Kommunist Gennadi Sjuganow oder der Nationalist Wladimir Schirinowski gelten als unattraktiv, der Kreml muss eine miserable Wahlbeteiligung fürchten. Nawalny könnte diese heben, aber gleichzeitig dem Amtsinhaber ernsthafte Probleme bereiten.

Nawalny ist der umtriebigste russische Oppositionelle. Mit immer neuen Ideen greift der Rechtsanwalt, Blogger und Aktivist die Führung um Präsident Putin an. Sein Fonds zur Bekämpfung der Korruption (FBK) prangert sorgfältig dokumentiert Fälle von Bereicherung in der russischen Elite an.

Nawalny ist der populärste Oppositionelle in Russland

Der 40-Jährige ist ein guter Redner, ein selbstbewusster Typ mit Witz und Ironie. 2011 veralberte er die Kreml-Partei Geeintes Russland als „Partei der Gauner und Diebe“. Der Slogan blieb im Volksbewusstsein haften. Zwar appellieren seine Sprüche oft an die nationalistische Seite der Russen. Zentralasiaten und Kaukasier will er draußen aus Russland halten. Doch das macht es für die Staatsmacht schwieriger, ihn wie andere Kremlgegner als Landesverräter zu brandmarken und aus dem Verkehr zu ziehen. In der zersplitterten russischen Opposition kann Nawalny noch auf die größte Gefolgschaft zählen.

Er war ein Wortführer der Großdemonstrationen gegen Wahlfälschungen 2011, der bislang größten innenpolitischen Herausforderung für Putin. „Putin ist schon 17 Jahre an der Macht, länger als (Sowjetführer Leonid) Breschnew“, sagt Nawalny. Es sei Zeit für einen Wechsel. Nawalny, geboren in Butyn bei Moskau, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sein Bruder Oleg ist in einem anderen Prozess zu Haft verurteilt worden.