Brüssel. Die Balkanroute ist einigermaßen dicht, der Flüchtlingspakt mit der Türkei hält immer noch. Nun will die EU auch im Süden abriegeln.

Das Land, das der Europäischen Union vielleicht genauso viel Kopfzerbrechen bereitet wie die USA unter Donald Trump, ist an diesem Freitag auf einmal sehr nah. Nicht einmal 400 Kilometer sind es vom Tagungsort des EU-Sondergipfels auf Malta bis an die Küste Libyens. Nur das tiefblaue Mittelmeer liegt hier zwischen Europa und den Orten, die Schleuserbanden zu den wichtigsten Drehkreuzen der illegalen Migration ausgebaut haben. Und damit zum Problem für die EU.

Das Problem

Die Migrationsströme haben sich vom östlichen ins zentrale Mittelmeer verlagert. 181.000 Menschen kamen 2016 auf diesem Weg, die Tendenz ist stark steigend und die EU-Oberen fürchten einen steilen Anstieg, wenn besseres Wetter die Überfahrt erleichtert. Allein in Libyen warten nach Angaben des derzeitigen EU-Vorsitzenden Malta 350.000 Menschen auf eine Gelegenheit.

Etwa 95 Prozent der illegalen Migranten kommen auf dieser zentralen Route, die allermeisten starten von der 1850 Kilometer langen libyschen Küste. Die größte Gruppe – über ein Fünftel – stammt aus Nigeria, dann folgen Eritrea, Guinea und weitere schwarzafrikanische Länder. Syrische Flüchtlinge seien nicht dabei, sagen die EU-Verantwortlichen.

Überhaupt handle es sich überwiegend um Wirtschaftsflüchtlinge, also Auswanderer, die keine Aussicht auf Asyl in der EU hätten. Zugleich nehme das Elend derer zu, die es dennoch versuchen. Die drei EU-Missionen im Mittelmeer (Triton, Sophia, Poseidon) zogen im letzten Jahr etwa 110.000 Personen aus dem Wasser oder aus seeuntüchtigen Booten. Mehr als 4500 Menschen ertranken. Für Gipfel-Präsident Tusk kann es nur eine Konsequenz geben: „Es ist an der Zeit, den Weg von Libyen nach Italien zu schließen!

Das Modell

Der im März vorigen Jahres geschlossene Deal mit der Türkei ist als Partnerschaft mit dem fragwürdigen Regime des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hoch umstritten. Rein praktisch ist die Sache aber aus Sicht der EU-Verantwortlichen ein Erfolg: In den vergangenen vier Monaten 2016 sei die Zahl der Zugänge aus der Ägäis gegenüber dem Vorjahr um 98 Prozent gesunken.

Wie stark dieser Effekt auch auf die Schließung der Balkan-Landroute zurückgeht, bleibt dabei unberücksichtigt. Als „Modell“ für eine Vereinbarung mit den Nordafrikanern gilt der Türkei-Deal offiziell nicht. Es gebe fundamentale Unterschiede zwischen der östlichen und der zentralen Mittelmeer-Passage, vor allem weil man es beim Hauptkontrahenten Libyen nicht mit einem funktionierenden Staat zu tun habe.

Das Ziel – drastische Drosselung des Andrangs durch Kooperation der Herkunfts- und Transitländer – ist aber dasselbe. Schließlich könne man nicht „den Schlepperorganisationen die Entscheidung überlassen, wer nach Europa kommt und wer nicht“, erklärt Österreichs Kanzler Christian Kern.

Der Plan

Ein Schlüssel-Element des Türkei-Deals war die Verpflichtung Ankaras, Flüchtlinge aus Syrien zurückzunehmen. Das Verfahren kommt mit dem Nichtstaat Libyen bis auf Weiteres nicht in Frage. Hier geht es darum, die Migranten von vornherein davon abzuhalten, sich überhaupt einzuschiffen. Darauf zielt ein Zehn-Punkte-Plan ab, den die Staats- und Regierungschefs in Malta verabschiedeten.

Die libysche Küstenwache bekommt verstärkte Ausbildungshilfe, um Schmugglern das Handwerk zu legen; Nachbarstaaten, die dabei kooperieren, können ebenfalls auf zusätzliche Hilfe rechnen; die libysche Südgrenze soll besser gesichert werden; eine Informationskampagne in den Herkunftsländern soll allen, die mit der Auswanderung nach Europa liebäugeln, die Aussichtslosigkeit vermitteln.

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Die EU-Kommission stellt 200 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung, um Libyen bei der Eindämmung der Migration zu helfen. Die von Deutschland ins Spiel gebrachten „Aufnahme-Einrichtungen“ finden sich in dem Plan nur als vage Option.

Lybien

„Wir brauchen eine politische Lösung für ein stabiles Libyen, sagt die Kanzlerin, „daran ist noch viel zu arbeiten.“ Wohl wahr. Es gibt zwei rivalisierende Regierungen, dazu eine Unzahl von regional und lokal mächtigen Stämmen und Clans.

Die EU hält sich an die von der Uno anerkannte Regierung des Präsidenten Fayiz al-Sarradsch in Tripoli, den die EU-Oberen diese Woche in Brüssel empfingen. Sarradsch hat freilich im Osten des Landes nichts zu sagen. Dort regiert von Tobruk aus der Militär-Befehlshaber Khalifa Haftar.

Menschenrechte

Gleich zum Auftakt bekräftigt die Gipfel-Erklärung das Bekenntnis zur „vollständigen Einhaltung der Menschenrechte, des Völkerrechts und der europäischen Werte“. Wie sehr es damit hapert, haben die beiden wichtigsten einschlägigen Institutionen, der Hohe Flüchtlingskommissar der UN (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM), dem Gipfel schriftlich gegeben.

© Getty Images | Leon Neal

In Libyen bestehe das Migrationsmanagement in der „automatischen, oft willkürlichen Internierung von Flüchtlingen unter beklagenswerten Umständen“. Weder komme das Land als sicherer Drittstaat in Frage noch als Standort, um den Schutz-Anspruch ankommender Menschen zu prüfen. Letzteres hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière im Visier, wenn er nach „sicheren Orten“ sucht, um „einen wirksamen Massenzustrom-Mechanismus“ einzurichten.

Russland

Für Russlands Präsidenten Wladimir Putin eröffnen die europäischen Nöte im Süden die Möglichkeit, an einer weiteren Front seinen Einfluss geltend zu machen. Wenn die EU, deren interne Gegner er gern unterstützt, durch massenhafte Zuwanderung unter Druck geriete, könnte ihm das nur recht sein.

Der Gipfel-Gastgeber, Maltas Ministerpräsident Joseph Muscat, hat die EU-Partner auf die verstärkten russischen Aktivitäten in Nordafrika aufmerksam gemacht. So bemüht sich der Kreml um General Haftar, den starken Mann von Tobruk. Ein politisches Schwergewicht, ohne das es keine Lösung gibt.