Berlin/Brüssel. Die Ukraine und Georgien erwarten schnelle Visafreiheit für die EU. Die Türkei soll folgen. Doch in Deutschland wachsen die Bedenken.

144 Bedingungen hat die Ukraine erfüllt. „144 Reformschritte“ bis zur Visafreiheit, wie sich Präsident Petro Poroschenko erhofft. Für sein Land wäre sie von „großer Bedeutung“, wie er unserer Redaktion sagte. Einen genauen Zeitpunkt möchte er nicht nennen, nur so viel: „Wir sprechen eher von Wochen als von Monaten.“

Tatsächlich berät die EU über eine Liberalisierung für vier Staaten, neben der Ukraine auch für das Kosovo, Georgien und für die Türkei. Im CDU-geführten Innenministerium beobachtet man die Entwicklung nicht ohne Sorge. Die Probleme seien eigentlich beherrschbar, „es ist eher ein kommunikatives Problem“, heißt es in der Hausspitze.

Georgien ist Ziel am nächsten

Auf Drängen von Innenminister Thomas de Maizière (CDU), aber auch von Frankreich, hat die EU eine Snap-back-Klausel durchgesetzt. Das ist eine Sollbruchstelle in der EU-Mechanik, wie eine Sicherung im elektrischen System: Wenn die Visafreiheit missbraucht wird, dann kann die EU sie umgehend aussetzen. Am nähesten sind die Georgier ihrem Wunschziel, und am weitesten entfernt davon ist die Türkei.

Sie muss 72 Bedingungen erfüllen, da geht es um Grenzkontrollen, Management von Migration und Asylwesen, öffentliche Ordnung, Sicherheit, Außenbeziehungen, Grundrechte. Nicht zuletzt müsste sie ihre Terrorgesetze den EU-Standards anpassen, mit denen die Regierung von Staatschef Recep Tayyip Erdogan derzeit die Grundrechte und Meinungsfreiheit deutlich einschränkt.

CSU sperrt sich gegen Visa-Liberalisierung

Dagegen sperrt sich die Türkei und verzögert so die Visa-Liberalisierung. Zum Leidwesen nicht nur der türkischen Geschäftsleute. Visafreiheit wäre auch eine finanzielle Erleichterung für türkische Bürger, die als Touristen oder auf Verwandtenbesuch in die EU reisen wollen und bisher 60 Euro für den Vermerk bezahlen müssen.

Die Zahl der Asylbewerber aus dem Land steigt an, das umstrittene Flüchtlingsabkommen ist labil. Vor allem die CSU würde sich querlegen, wenn die Visa-Pflicht entfallen würde. Wie sollten Christdemokraten es ihren Anhängern erklären? Antwort: Gar nicht.

„Vollkommen falsches politisches Signal“

„Eine Visumsfreiheit für die Türkei kommt für mich zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht in Betracht“, sagte der CSU-Innenpolitiker Stephan Mayer unserer Redaktion. Die Menschenrechtslage und die Situation der Minderheiten, Oppositionellen und Journalisten hätten sich seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 so dramatisch verschlechtert, „dass die Visumsfreiheit ein vollkommen falsches politisches Signal wäre“.

CSU-Innenpolitiker Stephan Mayer warnt vor einer Visa-Liberalisierung für die Ukraine und die Türkei.
CSU-Innenpolitiker Stephan Mayer warnt vor einer Visa-Liberalisierung für die Ukraine und die Türkei. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Auch stört er sich daran, dass Präsident Erdogan es „als großen innenpolitischen Erfolg für sich verbuchen“ würde. Erfüllt die Türkei alle Bedingungen, müsste Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Wort halten und der Visa-Freiheit zustimmen. Im Kanzleramt wird mit der „Prüfung“ nicht vor der Bundestagswahl gerechnet.

Visafreiheit für Georgier befristet

Gerade erst hat das EU-Parlament einem Bericht zur Visa-Freiheit zugestimmt, für den 13. Februar ist eine Abstimmung vorgesehen. Am 1. März soll die Snap-back-Klausel für Georgien unterschrieben, am 9. März veröffentlicht werden. Nach einer 20-Tage-Frist kann der Vertrag in Kraft treten. Die EU-Diplomaten haben eine Reihe von Kautelen durchgesetzt. Zum einen ist die Visafreiheit für Georgier auf 90 Tage befristet, zum anderen gilt sie nur für Inhaber eines biometrischen Passes.

Etwas später ist die Ukraine dran. „Das kann schnell gehen“, heißt es in diplomatischen Kreisen. Vor allem Abgeordnete des Europäischen Parlaments üben hier Druck aus auf den EU-Rat, in dem die Regierungen der Mitgliedsstaaten vertreten sind. Das geht aus einem internen Sachstandbericht hervor, der dieser Redaktion vorliegt.

Reformtempo reicht EU nicht

„Jetzt hoffe ich auf den politischen Willen in den Mitgliedstaaten“, sagt Poroschenko. „Die Visa-Freiheit ist für beide Seiten von Vorteil“, versichert er. Die Ukrainer sollen, so heißt es in Brüssel, jedenfalls in den Sommerferien schon von der erleichterten Reisemöglichkeit profitieren.

Dass sie etwas hinter den georgischen Nachbarn zurückliegen, liegt offiziell daran, dass mit jedem Land einzeln verhandelt wird. Im Fall der Ukraine steckt darin aber auch eine Botschaft: Die EU-Mitgliedsstaaten sind nicht zufrieden mit dem Reformtempo unter der Präsidentschaft von Poroschenko.

Furcht vor steigenden Flüchtlingszahlen

Was in Berlin Sorge bereitet, ist das soziale Gefälle zu anderen europäischen Staaten. Im Klartext heißt das: Menschen, die vor Armut fliehen. CSU-Mann Mayer hat „erhebliche Zweifel“, dass die Ukraine in der Lage ist, die Außengrenze so effektiv und umfassend zu schützen, damit illegale Migration weitestgehend ausgeschlossen sei.

Auch befürchtet er, dass die Flüchtlingszahlen zunehmen würden. Gar nicht auszudenken sind die Folgen, wenn die bewaffneten Konflikte im Osten des Landes eskalieren sollten.

Kosovo muss sich länger gedulden

Bei Georgien ist das Problem, dass ein Teil der Einbruchskriminalität in Deutschland auf organisierte Kriminelle aus diesem Land zurückgeht. Länger gedulden müssen sich die Kosovaren. Sie haben ihr Pflichtenheft nicht abgearbeitet. Eine Rolle spielt auch der Grenzstreit mit Montenegro. Der Verlauf ist noch immer nicht endgültig festgelegt.

Skeptiker Mayer stimmt zu, dass man jedes Land separat betrachten müsse, aber eigentlich behagt ihm die ganze Richtung nicht. Er ist überzeugt, „dass momentan angesichts der schwierigsten und größten Migrationskrise, in der sich die EU jemals befand, der Zeitpunkt falsch wäre, die Visumsfreiheit gegenüber weiteren Ländern zu erklären.“