Berlin . Über ein Interview erfährt die SPD, dass der Parteichef nicht als Kanzlerkandidat antritt – der geregelte Fahrplan zur Macht ist Makulatur.

Die Genossen fühlen sich überrumpelt. Es ist kurz vor 15 Uhr, als SPD-Chef Sigmar Gabriel vor der Bundestagsfraktion eine Erklärung in eigener Sache abgibt: Er werde nicht als Kanzlerkandidat antreten, verkündet er den überraschten Abgeordneten, Martin Schulz habe bessere Chancen. „Es geht um das Überleben der SPD“, ruft der Vorsitzende. „Wenn wir 2017 nicht gut abschneiden, dann geht 2021 erst recht nichts.“

Es ist still in der Fraktion, damit hat fast niemand gerechnet. Gabriel sagt, seine Umfragewerte seien nicht gut genug, das habe auch mit den vielen Konflikten zu tun, die er habe austragen müssen. Am Ende gibt es stehende Ovationen für ihn.

Geplant war Inszenierung am Sonntag

Es ist ein Paukenschlag: Der Parteichef, den fast alle für den kommenden SPD-Kanzlerkandidaten hielten, zieht zurück. Er will auch den Parteivorsitz an Martin Schulz abgeben und das Wirtschaftsministerium verlassen – dafür will er bis zur Wahl das Außenministerium übernehmen.

Nicht nur die Entscheidung überrascht, sondern auch der Zeitpunkt: Eigentlich wollte die SPD die Kandidatenfrage mit einer großen öffentlichen Inszenierung am Sonntag im Willy-Brandt-Haus klären, seit vielen Wochen fiebert die Partei dem Termin entgegen. Und es war Gabriel, der immer versicherte: „Der Zeitplan gilt.“

Ein Exklusiv-Interview mit Gabriel wirft alles durcheinander

Doch nun wirft er in letzter Minute alles über den Haufen – seinen Rückzug will er selbst auf eigene Weise verkünden. Die SPD-Spitze, die am Abend im Willy-Brandt-Haus zusammenkommt, um die Sitzung am Sonntag vorzubereiten, wird vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Führung stimmt Gabriels Plänen einstimmig zu, dennoch empfinden auch Spitzenleute sein Vorgehen als Affront: Die erste Nachricht erreichte die Partei über die Medien. Am frühen Nachmittag, noch vor der Fraktionssitzung, wurde bekannt, dass das Magazin „Stern“ ein Exklusiv-Interview mit Gabriel geführt hat.

Darin gibt er seinen Rückzug bekannt, schildert ausführlich seine Motive. „Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD“, sagt er. „Um einen Wahlkampf wirklich erfolgreich zu führen, gibt es zwei Grund­voraussetzungen: Die Partei muss an den Kandidaten glauben und sich hinter ihm versammeln, und der Kandidat selbst muss es mit jeder Faser seines Herzens wollen.“ Beides treffe auf ihn nicht in ausreichendem Maße zu. Er spüre schon seit langer Zeit, dass er mit seiner fordernden, ruppigen Art zu viele in der SPD verärgert habe.

Die Partei erhofft sich einen enormen Motivationsschub

Eigentlich erscheint der „Stern“ erst am Donnerstag, doch die Auslieferung ist wegen dieses Interviews auf Mittwoch vorgezogen. Und am Dienstagmittag kursiert über einen Mediendienst im Internet plötzlich das Titelbild des „Stern“ – mit der Schlagzeile „Der Rücktritt.“

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Gabriel gibt sich empört, die Vorabveröffentlichung sei nicht abgesprochen. Versehen oder Kalkül, der Stil kommt jedenfalls nicht nur bei den SPD-Abgeordneten nicht gut an, viele in der Partei ärgern sich. Vor allem in der SPD-Linken wird aber die Aussicht begrüßt, mit Schulz in den Wahlkampf zu ziehen.

Der Chef der Fraktions-Linken, Matthias Miersch, spricht von einer richtigen Entscheidung: „Für die Partei wird es einen enormen Motivationsschub bedeuten, weil Martin Schulz hohe Anerkennung in der Bevölkerung genießt.“ Der Chef des konservativen Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, der lange für Gabriels Kandidatur gekämpft hat, sagt nun: „Seine Umfragewerte sind nicht besser geworden, dann soll es eben nicht so sein.“

Entscheidung bereits vor Weihnachten getroffen

Das entscheidende Interview hatte Gabriel am Sonntag geführt. Am Sonnabend zuvor hatte er Schulz eingeweiht, später erfuhren einzelne Führungsleute, dass Gabriels Kandidatur mindestens ungewiss sei. Reichlich spät: Gabriel hat die Entscheidung dem Vernehmen bereits kurz vor Weihnachten getroffen. Anfang Januar hatten Spitzenleute dennoch den sicheren Eindruck, Gabriel würde für sie in den Kampf ziehen: Der Vorsitzende gab Interviews und legte Programmpapiere für den Wahlkampf vor.

Auch bei einem Spitzentreffen vor zehn Tagen in Düsseldorf legte Gabriel seine Karten nicht offen. Und selbst am Dienstag ließ er sich nichts anmerken. Nicht bei einer Rede auf einem Energiekongress und nicht beim Staatsakt für Roman Herzog. Vertraute sagen: „Er wirkte entspannt und erleichtert.“

Dem Parteichef ist das Privatleben wichtig

Gabriel hat lange mit sich gerungen, er hat das selbst eingeräumt. Da ist das Privatleben: Seine Frau und er erwarten im Frühjahr das zweite Kind, wieder eine Tochter. Als Kanzlerkandidat hätte er kaum Zeit für seine Familie gehabt, er wäre ein halbes Jahr komplett ausgefallen. Seine Frau Anke hat ihn zum Verzicht nicht gedrängt, zu seinen politischen Ambitionen sogar erklärt: „Weglaufen gibt es nicht.“ Schon die Tatsache, dass Gabriel nun das mit vielen Reisen verbundene Außenministerium übernehmen will, zeigt: Es waren nicht nur private Gründe. Der SPD-Chef hat am Ende die Konsequenzen gezogen aus seiner mangelnden Popularität.

Alle Umfragen signalisieren seit Monaten, dass die SPD mit Martin Schulz deutlich bessere Chancen haben könnte. Deshalb haben Genossen seit dem Sommer intern dafür geworben, der Parteichef solle Schulz den Vortritt lassen. Gabriel wollte nicht, auch nach vielen Gesprächen mit Schulz ließ er sich nicht erweichen. Ihn hinderte vor allem die Aussicht, den SPD-Vorsitz abgeben zu müssen: Ein zweites Mal nach der Bundestagswahl 2013 hätte es die SPD ihrem Chef nicht durchgehen lassen, dass er die Spitzenkandidatur an jemand anderen weiterreicht.

Die SPD steht in Umfragen bei 20 bis 21 Prozent

Dieses Amt, das Gabriel gut sieben Jahre ausgeübt hat, länger als alle SPD-Chefs nach Willy Brandt, bedeutet ihm viel – nach eigener Schilderung mehr als die Regierungsämter. „Als SPD-Vorsitzender fühlt man eine große Verantwortung. Die gibt man nicht so einfach ab“, hat er vor einiger Zeit erklärt.

So hat der Vorsitzende alles versucht, um sein Ansehen zu steigern: Aber auch eine Reihe politischer Erfolge in den vergangenen Monaten hat nicht geholfen. Wie zementiert hängt die SPD in Umfragen bei nur 20 bis 21 Prozent – und Demoskopen bescheinigen Gabriel, er finde bei einer Mehrheit der Wähler kein Vertrauen. Als sich in den vergangenen Wochen der Eindruck verdichtete, Gabriel wolle selbst antreten, gab es auch Unmutsäußerungen etwa aus der SPD-Fraktion. Gabriels vorzeitiger Ausstieg hat womöglich kritische Debatten rechtzeitig gestoppt.

Gabriel hat Spaß daran, falsche Fährten zu legen

Die, die ihn gut kennen, hatten nie ganz ausgeschlossen, dass der Parteichef in dem Moment zurückzieht, in dem alle mit ihm rechnen. Er hat durchaus Spaß daran, falsche Fährten zu legen. Am Dienstag freute er sich vor der Fraktion: „Jetzt geht’s los. Damit haben die Jungs und Mädels von den Medien nicht gerechnet.“ Und wohl auch die Kanzlerin nicht. Für Angela Merkel hatte Gabriel am Dienstag nur noch scharfe Kritik übrig: In einer Erklärung verkündete er, Schulz stehe für einen „glaubwürdigen Neuanfang“ jenseits der großen Koalition.