London/Berlin. Der Supreme Court stellt sich auf die Seite der Abgeordneten: Die Parlamentarier müssen über den Antrag auf den EU-Austritt abstimmen.
Es war eine Ohrfeige für die britische Premierministerin Theresa May. Mit der deutlichen Mehrheit von acht zu drei Richterstimmen entschied das höchste Gericht des Landes am Dienstag gegen die Regierung. Der Supreme Court in London urteilte, dass Theresa May nicht im Alleingang den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union in Gang setzen kann. Vielmehr sprach das Gericht dem Parlament ein Mitspracherecht beim Brexit zu. Erst wenn die Volksvertreter die Regierung durch ein Gesetz dazu autorisieren, darf die Premierministerin den Artikel 50 des Lissabonner Vertrages anrufen und damit die zweijährigen Brexit-Verhandlungen einleiten.
Minister: Entscheidung über den Brexit ist unwiderruflich
Einen Teilsieg allerdings konnte die Regierung erringen. Die Regionalregierungen in Nordirland, Wales und Schottland müssen nicht konsultiert werden. Das Gericht urteilte in dieser Hinsicht einstimmig. Es wäre in der Tat ein ernstes Problem für Theresa May geworden, hätte sie die Zustimmung für ihren Brexit-Kurs aus Edinburgh, Cardiff und Belfast einholen müssen. Denn May will den harten Schnitt, den britischen Ausstieg aus dem Binnenmarkt und der Zollunion. Dagegen pochen die drei anderen Nationen des Vereinten Königreichs auf den uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt.
Der Brexit-Minister David Davis erklärte im Unterhaus, dass das Urteil „nichts damit zu tun hat, ob wir die EU verlassen oder nicht“. Die Entscheidung darüber sei unwiderruflich am Tag des Referendums am 23. Juni gefallen. Die Regierung werde in den nächsten Tagen ein einfaches und geradliniges Gesetz einbringen, das die Regierung zum Auslösen des Artikels 50 befugt.
Die Labour-Opposition steckt im Dilemma
Trotz des höchstrichterlich verfügten Mitspracherechts des Parlaments dürfte es beim Brexit-Beschluss Mays bleiben. Zwar halten die meisten Abgeordneten im Unterhaus – eine der beiden Parlamentskammern – den Brexit für falsch. Gegen das Ergebnis der Volksabstimmung wollen sie sich aber nicht stellen. Vor allem für die Labour-Opposition, die für den Verbleib in der EU gekämpft hatte, ist das ein Dilemma. Etwa zwei Drittel ihrer Fraktionsmitglieder vertreten Wahlkreise, in denen die Brexit-Befürworter vorn lagen.
Labour-Chef Jeremy Corbyn erklärte, dass man die Referendumsentscheidung respektiere. Man werde den Prozess, Artikel 50 anzurufen, nicht behindern. Allerdings will Labour verschiedene Änderungsanträge für das Artikel-50-Gesetz einbringen. Hier geht es unter anderem darum, Arbeitnehmerrechte zu erhalten und einen künftigen zollfreien Zugang zum Binnenmarkt sicherzustellen. Die schottischen Nationalisten von der SNP haben sogar ganze 50 Änderungsanträge angekündigt. Die SNP wie auch die Liberaldemokraten lehnen den EU-Austritt grundsätzlich ab und streben ein zweites Referendum an. Mit dieser Forderung stehen sie jedoch allein auf weiter Flur.
Brexit-Befürworter bejubeln ihren Sieg
Oberhaus kann der Regierung das Leben schwer machen
Das zu erwartende Gesetz wird voraussichtlich ohne größere Schwierigkeiten durch das Unterhaus gelangen. Hier hat die Regierung eine sichere Mehrheit. Im Oberhaus liegen die Dinge jedoch anders. Die Lords in der zweiten Kammer sind mehrheitlich gegen einen harten Brexit. Sie dürften ebenfalls der Regierung durch Änderungsanträge das Leben schwer machen. Sollte das Oberhaus gegen das Gesetz stimmen, würde es zurück ans Unterhaus gehen, und ein Ping-Pong-Spiel begänne. Letztlich könnten aber auch die Lords nicht verhindern, was die gewählten Volksvertreter beschließen, sie könnten es aber verzögern.
Theresa May will den Startschuss für die Brexit-Verhandlungen spätestens Ende März geben. Doch trotz der vollmundigen Versicherungen kann ihr Terminplan ins Wanken kommen. Mit seinem Urteil bestätigte der Supreme Court den Spruch des High Court, der im November ergangen war. Premierministerin May hatte damals Einspruch eingelegt, obwohl ihr Rechtsexperten davon abgeraten hatten.
Ifo-Chef sieht noch Chancen für enge Anbindung an EU-Binnenmarkt
Nach Ansicht von Wirtschaftsfachleuten wird das Brexit-Urteil einen Ausstieg des Landes aus der EU nicht verhindern. Die Verhandlungen könnten sich allerdings verzögern, meinen die Experten. Der Weg zum Brexit sei „mit neuen Fragezeichen versehen“, sagte der Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Volker Treier. Ohne Klarheit und Berechenbarkeit hielten sich die Unternehmen aber noch stärker als ohnehin mit Investitionen zurück.
„Es wäre für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Kanals von großer Bedeutung, dass die britische Regierung bis zum Antrag Ende März weiß, was sie will.“ Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer geht davon aus, dass London weiterhin den Weg eines harten Brexit wählen wird – das Land also auch den EU-Binnenmarkt verlässt.
Der Chef des Münchner Ifo-Instituts Clemens Fuest ist dagegen etwas zuversichtlicher. Die britische Regierung müsse den Abgeordneten nun darlegen, wie sie sich die Beziehungen zur EU nach dem Austritt vorstelle. Das könnte dazu führen, „dass die Stimmen an Gewicht gewinnen, die einen ,Hard Brexit‘ ablehnen und eine möglichst enge Anbindung der britischen Wirtschaft an den europäischen Binnenmarkt wünschen“.