Berlin/Los Angeles. Weinende Kinder emotionalisieren besonders. Eine jüdische Fotografin klagt, dass ihre Bilder in Europa für Propaganda genutzt werden.

  • 2006 fotografierte Jill Greenberg in Los Angeles für eine Serie weinende Kleinkinder
  • Diese Bilder werden heute vor allem von rechten Gruppen für Propaganda missbraucht
  • Ein AfD-Unterstützeraccount hat aktuell ein Foto gestohlen, die AfD schweigt dazu

Den Kampf gegen Kindesmissbrauch wie eine Fahne vor sich hertragen und zugleich Kinder für die eigene populistische Agenda missbrauchen, noch dazu mit Fotos einer jüdischen Fotografin? Rechte Kreise sehen darin offenbar keinen Widerspruch.

Der jüngste öffentlichkeitswirksame Fall stammt vom Abend des islamistischen Anschlags auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. „Krieg in Deutschland“ stand am 19. Dezember auf einem Foto, das auch ein weinendes Kind zeigte. Gerade einmal rund zwei Stunden lag da zurück, dass ein Lkw Tod und Leiden auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gebracht hatte.

„Meine Bilder werden oft für rechte Propaganda genutzt“

Das Bild gepostet hatte @balleryna, reichweitenstärkste Stimme der AfD auf Twitter. Das Foto aber stammt von der jüdischen US-Fotografin Jill Greenberg. Und die sagte unserer Redaktion, dass das kein Einzelfall sei. „Meine Bilder werden so oft für entsetzliche rechtsgerichtete Propaganda genutzt.“ Sie und die Eltern von ihr fotografierter Kinder können ein langes Klagelied singen.

Wer hinter dem Account @balleryna steckt, ist in der Öffentlichkeit nicht bekannt. Der Name Irina L. tauchte früher im Profil auf, dazu der Ort Baden-Baden und ein Foto einer sympathisch lächelnden Blondine. Mit fast 300.000 dem Anschein nach echten Followern hat der Account zehnmal so viele wie die AfD-Chefin Frauke Petry und mehr als SPD-Chef Sigmar Gabriel und Justizminister Heiko Maas zusammen.

Im Account oben angepinnt ist ein Tweet, in dem es heißt, Kinder seien die wichtigsten Dinge in unserem Leben. #StopChildAbuse – stoppt Kindesmissbrauch, steht dabei. Mit dieser berechtigten Forderung versuchen Rechtspopulisten und auch Rechtsextreme traditionell Zustimmung zu erheischen.

Fotos entstanden auch als Protest gegen Bush

Unsere Redaktion hat bereits am Freitag vor Silvester bei der Pressestelle der AfD angefragt, ob sie in Kontakt steht mit der Nutzerin oder dem Nutzer des Accounts und ob sie etwas gegen die Verbreitung des Bildes unternehmen will. Keine Antwort trotz Nachfrage, von @balleryna ebenfalls nicht.

Jill
Jill © jillgreenberg.com/Screenshot | jillgreenberg.com/Screenshot

Recherchieren lässt sich aber, wer das Kleinkind auf dem „Krieg“-Foto ist: Das Mädchen saß 2006 mit anderen Zwei- und Dreijährigen für die 49-Jährige Jill Greenberg in Los Angeles vor der Kamera. Greenbergs Serie „End times“ mit weinenden Kindern war auch gedacht als Protest gegen die Politik von Präsident George W. Bush. Das tränenüberströmte Mädchen mit den großen braunen Augen und den langen Haaren ist die Tochter eines befreundeten Franzosen.

„Offenbar macht sich niemand darüber Gedanken, dass es sich bei den Kindern um echte Menschen mit Eltern handelt“, sagt Greenberg. Der Veröffentlichung des Tweets mit dem Bild in diesem Artikel zu dokumentarischen Zwecken hat sie zugestimmt, bei anderen Beispielen bat sie, von einer Veröffentlichung abzusehen.

Sohn fragt: „Bin ich berühmt?“

Ihr eigener ebenfalls jüdischer Sohn wurde zum Gesicht von flüchtlingsfeindlichen Kampagnen in Österreich. Sie hat es ihrem Sohn nach der Kontaktaufnahme unserer Zeitung erzählt. „Bin ich berühmt?“, war seine Antwort. Sei er in gewisser Weise, aber nicht im positiven Sinn. „Er hat dann gesagt, er werde dann nie darüber sprechen, damit er nicht damit in Verbindung gebracht wird.“ Zum Glück erkenne man ihn ja heute nicht mehr.

Mit einem Foto von Greenbergs Tochter suchte in Kanada eine Petition Unterstützer, die ein öffentliches Register mit den Adressen von Sexualstraftätern fordert. Auch aus Estland, Frankreich und der Schweiz hat die Fotografin Fälle parat, bei denen ihre Fotos für Botschaften genutzt wurden, denen sie nie zugestimmt hätte. Meist wird sie von irgendwem kontaktiert, der sich über Hassbotschaften ärgert. Aus Berlin bekam sie den Hinweis, dass ein österreichischer Pegida-Ableger mit einem ihrer Bilder hantiert.

Greenberg sagte, ihr bleibe nicht viel mehr, als Seitenbetreiber nach dem amerikanischen Copyright-Gesetz (DMCA) zum Entfernen gestohlener Inhalte aufzufordern. „Ich kann nicht dafür Anwälte einschalten. Das würde meine komplette Zeit und mein Geld verschlingen.“ Sie beklagt sich über die europäischen Regelungen zum Schadenersatz bei Copyright-Verletzungen. Sie könne dann jeweils nur hoffen, das zu bekommen, was sie selbst für die lizenzierte Nutzung der Bilder verlangt hätte. „Mal ganz abgesehen davon, dass ich meine Bilder nie für jemanden mit üblen Botschaften freigeben würde.“

Eltern fordern: Es muss aufhören

Das Unrechtsbewusstsein ist wenig ausgeprägt. Als sie eine Facebookseite der Brexit-Kampagne aufforderte, ein Bild zu löschen, kam von dort die Antwort, sie solle erst einmal beweisen, dass das Foto von ihr ist. Das fiel ihr leicht.

Doch Greenberg wird von Eltern auch mit unerfüllbaren Bitten konfrontiert: Man stehe in der Verantwortung für die Kinder, schrieb ihr der Vater eines Jungen. Sie solle dafür sorgen, dass die missbräuchliche Nutzung aufhört.

Das erinnert auch an das Schicksal einer australischen Familie, die mit ihrem blonden Kind ein Waisenhaus in Indien besucht hatte. Das Foto der Familie von der heiteren Situation wird inzwischen genutzt, um Visionen einer „Umvolkung“ in westlichen Ländern zu illustrieren.

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Auch schwarzer Aktivist nutzte Bild missbräuchlich

Große Verbreitung gefunden hatte es in Deutschland, als die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach das mit den Worten „Deutschland 2030“ versehene Bild twitterte. Der NDR machte die Familie ausfindig, die aus allen Wolken fiel. Ihre Bitte um Löschung des Bildes ist Steinbach bis heute nicht nachgekommen. Sie hatte angegeben, ein besorgter Vater habe ihr das Bild geschickt.

Greenberg erlebt Missbrauch ihrer Fotos vereinzelt auch aus anderer Richtung: Ein radikaler Vertreter der „Black Lives matter”-Bewegung in den USA montierte in das Bild eines von ihr fotografierten schwarzen Jungen noch einen Strick um seinen Hals, es verbreitete sich viral. Emotionale Bilder sind Scharfmachern jeder Richtung nützlich. Erst als sich andere Schwarze einschalteten, löschte der Mann das Bild.

Fotografin weist Kritik an Bildern zurück

Für Greenberg hatten ihre Fotos der Kinder noch andere Folgen. Die vielseitige Fotografin, die unter anderem auch Prominente wie David Bowie oder Clint Eastwood porträtiert hat, wird oft auf die Kinderfotos reduziert.

Zudem wird sie bis heute angefeindet, weil sie manche der Kinder zum Weinen gebracht hatte. Sie gab ihnen beispielsweise Lutscher und nahm sie ihnen kurzzeitig wieder ab oder drohte, ein Spielzeug aus dem Fenster zu werfen. Greenberg antwortete, als Mutter wisse sie, wie leicht Kleinkinder auf kleinen Ärger heftig reagierten und wie wenig das bedeute: Es ist sofort vergessen. Die Fotos im Netz sind es nicht.