Berlin. Nach dem Berliner Anschlag kommen die Ermittler voran, aber längst nicht alles ist geklärt. Viele Fragen bleiben offen. Ein Überblick.

Eineinhalb Wochen nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin fehlen in dem Fall noch wichtige Erkenntnisse. Monatelang hielt der am 23. Dezember getötete mutmaßliche Attentäter, Anis Amri, deutsche Behörden zum Narren, benutzte Aliasnamen, stellte mehrere Asylanträge, lebte mal in Nordrhein-Westfalen, mal in Berlin. Schließlich entzog sich der 24-jährige Tunesier der Überwachung der Behörden. Gesicherte Informationen gibt es wenige, dafür umso mehr Gerüchte. Das ist bekannt:

• Wie lebte Amri vor dem Anschlag in Deutschland?

Amri kam im Juli 2015 nach Deutschland. Nach Erkenntnissen der Behörden tauchte er erst in Freiburg auf, dann in Nordrhein-Westfalen und schließlich in Berlin, wo er von Februar 2016 bis September überwiegend gelebt haben soll.

Er war auch an anderen Orten wie Karlsruhe und Hildesheim, verwendete sieben Identitäten und beantragte mehrfach Asyl, zuletzt im Mai in Oberhausen. Kurzzeitig saß er in Baden-Württemberg in Abschiebehaft, wurde aber wieder freigelassen, da zur Abschiebung nötige Papiere aus Tunesien fehlten.

• Amri war als sogenannter Gefährder eingestuft. Wurde er überwacht?

Ja, er stand im Fokus der Sicherheitsbehörden. In Berlin wurde vom 5. April bis 21. September Amris Kommunikation per Handy und Internet überwacht, weil der Verdacht bestand, er wolle sich in der Islamisten-Szene Frankreichs Schusswaffen für einen Anschlag besorgen. Die verdeckte Überwachung habe lediglich Hinweise geliefert, dass Amri als Kleindealer für Drogen in einem Park tätig sein könnte, erklärte die Generalstaatsanwaltschaft. Daher sei sie beendet worden.

Weil Amri als abgelehnter Asylbewerber und „Gefährder“ aus dem Visier der Behörden verschwunden war, kommen aus der Politik Rufe nach schärferen Gesetzen.

• War Amri ein Terrorist der Miliz „Islamischer Staat“ (IS)?

Kurz nach dem Tod Amris in Italien veröffentlichte das IS-Sprachrohr Amak ein Video, in dem Amri zu sehen ist. Auf der knapp dreiminütigen Aufnahme schwört er dem IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi die Treue. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass es authentisch ist, wie eine Sprecherin am Donnerstag sagte.

• In den Fokus rückt nun auch wieder Nordrhein-Westfalen. Warum?

Nordrhein-Westfalen war einer der Hauptaufenthaltsorte Amris, in dem Bundesland liegt auch die für ihn zuständige Ausländerbehörde im Kreis Kleve. Die Opposition im Düsseldorfer Landtag wirft den Behörden deshalb schwere Fehler bei der Überwachung des Tunesiers vor.

Auf Antrag der Oppositions-Fraktionen von CDU, FDP und Piraten wird sich der Innenausschuss des Landtags NRW in einer Sondersitzung am 5. Januar mit dem Fall auseinandersetzen.

• War auch in NRW bekannt, dass Amri verschiedene Namen nutzte?

Ja, es ist sicher, dass die Behörden schon früh wegen unterschiedlicher Identitäten gegen Amri ermittelten. Im April eröffnete die Staatsanwaltschaft Duisburg ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs gegen den Tunesier. Darüber hatte zuvor auch bereits „Spiegel Online“ berichtet.

Nach Angaben eines Sprechers der Staatsanwaltschaft hatte Amri im November 2015 unter zwei Namen Sozialleistungen in Emmerich und in Oberhausen beantragt. Im November sei das Verfahren eingestellt worden, weil nicht bekannt gewesen sei, wo sich Amri aufhalte.

• Warum wurde der Lkw erst am Tag nach der Terrorfahrt untersucht?

Die Polizei begründet das mit einem planmäßigen Vorgehen bei der Spurensicherung. So brachten die Ermittler den Anschlags-Lkw erst in die Halle einer Kaserne, ehe er genau untersucht wurde. Im Fahrerhaus fanden sie schließlich eine Geldbörse, in der sich die Duldungspapiere des Asylbewerbers Amri mit einem Foto fanden.

Mit diesen Fahndungsfotos wurde der mutmaßliche Terrorist Anis Amri europaweit gesucht. Das Bundeskriminalamt (BKA) hatte die Bilder am 21. Dezember veröffentlicht.
Mit diesen Fahndungsfotos wurde der mutmaßliche Terrorist Anis Amri europaweit gesucht. Das Bundeskriminalamt (BKA) hatte die Bilder am 21. Dezember veröffentlicht. © dpa | -

Kritiker meinen, durch den späten Fund der Papiere sei wertvolle Fahndungszeit verschwendet worden. Zunächst hatte die Polizei zudem einen falschen Verdächtigen festgenommen. Die Ermittler in Berlin weisen die Kritik zurück.

• Wie kam Amri nach dem Attentat nach Italien?

Am Freitag, 23. Dezember, wurde Anis Amri gegen 3.30 Uhr von Polizisten in der Nähe des Bahnhofs der italienischen Stadt Sesto San Giovanni im Großraum Mailand bei einem Schusswechsel erschossen. Zumindest ein Teil seines Weges dorthin ist bekannt: Er reiste über die Niederlande und Frankreich nach Italien, wie die Bundesanwaltschaft bestätigte. Darauf habe ein Zugticket hingewiesen, das bei Amri gefunden wurde. Zudem habe er eine SIM-Karte bei sich gehabt, die vor Weihnachten in den Niederlanden kostenlos ausgegeben wurde.

Kameras filmten Amri im niederländischen Nimwegen, im französischen Lyon sowie in Turin und Mailand in Italien. Das bestätigten die Behörden vor Ort, die deutschen bislang jedoch nicht.

Mutmaßlicher Berlin-Attentäter erschossen

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    • Was wir nicht wissen

    Wann und wie Amri Berlin verlassen hat, ist bislang nicht genau geklärt. Auch dazu, wo sich Amri unmittelbar nach dem Anschlag aufhielt und wie er Deutschland verlassen hat, gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Noch vergangenen Freitag schien es Hinweise zu geben, dass sich der Attentäter in Berlin aufhalten könnte. Wie sich kurz darauf herausstellte, war er zu dem Zeitpunkt aber schon tot.

    Wenige Stunden zuvor hatte der Berliner Fernsehsender rbb Bilder einer Videokamera veröffentlicht, die den Terrorverdächtigen wenige Tage vor und einige Zeit nach der Tat vom 19. Dezember vor dem Moschee-Verein „Fussilet 33“ zeigen sollten. Das Landeskriminalamt dementierte dies, der Mann auf den Bilder sei nicht Amri.

    Auch bei Informationen zu Amris Überwachung gibt es Unklarheiten. Laut „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR wurde im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) in Berlin zwischen Februar und November 2016 mindestens siebenmal über Amri gesprochen. Die Journalisten berufen sich dabei auf Informationen aus Ermittlerkreisen.

    Demnach suchte Amri im Internet Anleitungen für den Bau von Rohrbomben. Zudem suchte er im Februar offenbar Kontakt zur Terrormiliz Islamischer Staat und soll sich als Selbstmordattentäter angeboten haben.

    Mindestens zweimal wurde dem Bericht zufolge im GTAZ die Frage diskutiert, ob Amri einen konkreten Anschlag in Deutschland plane. Beide Male wurde dies demnach als unwahrscheinlich eingestuft.

    Gesicherte Informationen fehlen auch zu Kontaktpersonen, Mitwissern und Helfern. Amri soll nach WDR-Recherchen unter anderem im Ruhrgebiet bestens vernetzt gewesen sein, Moscheen besucht und sogar als Vorbeter aufgetreten sein. Vertreter mehrerer Moscheen bestreiten dies aber.

    Trauer um Opfer des Anschlags von Berlin

    Nur wenige Stunden nach dem Anschlag: Nahe des Weihnachtsmarkts an der Berliner Gedächtniskirche, in den ein Lkw gerast war und dabei mehrere Menschen tötete, legten Trauernde erste Blumen nieder.
    Nur wenige Stunden nach dem Anschlag: Nahe des Weihnachtsmarkts an der Berliner Gedächtniskirche, in den ein Lkw gerast war und dabei mehrere Menschen tötete, legten Trauernde erste Blumen nieder. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Der Morgen danach in der Nähe des Tatorts: „Ich bin Berlin – für mehr Menschlichkeit & Mitgefühl“, steht auf dem Zettel.
    Der Morgen danach in der Nähe des Tatorts: „Ich bin Berlin – für mehr Menschlichkeit & Mitgefühl“, steht auf dem Zettel. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Viele Menschen bekundeten ihre Trauer auf dem Platz vor der Gedächtniskirche.
    Viele Menschen bekundeten ihre Trauer auf dem Platz vor der Gedächtniskirche. © REUTERS | PAWEL KOPCZYNSKI
    Auch Schilder an den Straßen nahe der Gedächtniskirche erinnerten am Dienstag an den Anschlag vom Vorabend.
    Auch Schilder an den Straßen nahe der Gedächtniskirche erinnerten am Dienstag an den Anschlag vom Vorabend. © dpa | Michael Kappeler
    Diese Frau betet für die Opfer der Todesfahrt. Zwölf Menschen waren am Montagabend ums Leben gekommen, viele weitere wurden schwer verletzt.
    Diese Frau betet für die Opfer der Todesfahrt. Zwölf Menschen waren am Montagabend ums Leben gekommen, viele weitere wurden schwer verletzt. © REUTERS | PAWEL KOPCZYNSKI
    „Das Licht ist stärker als die Dunkelheit“, steht auf dem Plakat, das dieser Passant in der Nähe des Anschlagsorts befestigt.
    „Das Licht ist stärker als die Dunkelheit“, steht auf dem Plakat, das dieser Passant in der Nähe des Anschlagsorts befestigt. © dpa | Rainer Jensen
    An allen Ecken der Schutzplane, die um den Anschlagsort aufgespannt wurde, legten die Menschen Blumen und Kerzen nieder.
    An allen Ecken der Schutzplane, die um den Anschlagsort aufgespannt wurde, legten die Menschen Blumen und Kerzen nieder. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    „In uns lebt ihr weiter“, steht auf einem Zettel, den jemand nahe des Anschlagsorts zusammen mit Kerzen niedergelegt hat.
    „In uns lebt ihr weiter“, steht auf einem Zettel, den jemand nahe des Anschlagsorts zusammen mit Kerzen niedergelegt hat. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Ein Moment des Innehaltens mitten in der Rush Hour. Eine Frau und ein Mann stehen vor der Gedächtniskirche und gedenken der Opfer.
    Ein Moment des Innehaltens mitten in der Rush Hour. Eine Frau und ein Mann stehen vor der Gedächtniskirche und gedenken der Opfer. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Die brandenburgische Fahne weht in Potsdam auf Halbmast Für den Dienstag ordnete Innenminister Thomas de Maizière für das gesamte Land Trauerbeflaggung an.
    Die brandenburgische Fahne weht in Potsdam auf Halbmast Für den Dienstag ordnete Innenminister Thomas de Maizière für das gesamte Land Trauerbeflaggung an. © dpa | Ralf Hirschberger
    In der Gedächtniskirche zünden Menschen Kerzen des Gedenkens an.
    In der Gedächtniskirche zünden Menschen Kerzen des Gedenkens an. © REUTERS | PAWEL KOPCZYNSKI
    Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller trägt sich in der Gedächtniskirche in Berlin in das Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlags ein.
    Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller trägt sich in der Gedächtniskirche in Berlin in das Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlags ein. © dpa | Maurizio Gambarini
    Auch die Fahnen vor dem Reichstag wehen am Tag nach dem Anschlag auf Halbmast.
    Auch die Fahnen vor dem Reichstag wehen am Tag nach dem Anschlag auf Halbmast. © dpa | Paul Zinken
    Den ganzen Tag über suchten Menschen den Weg zur Gedächtniskirche, um Blumen und Kerzen niederzulegen.
    Den ganzen Tag über suchten Menschen den Weg zur Gedächtniskirche, um Blumen und Kerzen niederzulegen. © Getty Images | Michele Tantussi
    Eine der vielen Botschaften, die auf Zetteln und Plakaten am Anschlagsort zu lesen sind: „Kriege führen zu mehr Terrorismus – Terrorismus verletzt ausnahmslos alle Menschen“.
    Eine der vielen Botschaften, die auf Zetteln und Plakaten am Anschlagsort zu lesen sind: „Kriege führen zu mehr Terrorismus – Terrorismus verletzt ausnahmslos alle Menschen“. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Europa sendet ein Zeichen der Solidarität: Die Fahnen vor dem Gebäude der EU-Kommission hängen auf Halbmast.
    Europa sendet ein Zeichen der Solidarität: Die Fahnen vor dem Gebäude der EU-Kommission hängen auf Halbmast. © dpa | Olivier Hoslet
    Bundespräsident Joachim Gauck äußerte sich am Dienstagnachmittag im Schloss Bellevue zum Anschlag in Berlin:  „Der Hass der Täter wird uns nicht zu Hass verführen“, sagte Gauck.
    Bundespräsident Joachim Gauck äußerte sich am Dienstagnachmittag im Schloss Bellevue zum Anschlag in Berlin: „Der Hass der Täter wird uns nicht zu Hass verführen“, sagte Gauck. © dpa | Bernd von Jutrczenka
    Eine Blume steht im Foyer des brandenburgischen Landtages neben dem Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlages.
    Eine Blume steht im Foyer des brandenburgischen Landtages neben dem Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlages. © dpa | Ralf Hirschberger
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) besuchte zusammen mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD) am Dienstagnachmittag den Anschlagsort.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) besuchte zusammen mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD) am Dienstagnachmittag den Anschlagsort. © dpa | Michael Kappeler
    Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in stillem Gedenken an die Opfer.
    Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in stillem Gedenken an die Opfer. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Die Kanzlerin zeigt sich beim Trauergottesdienst in der Gedächtniskirche am Dienstagnachmittag sichtlich bewegt.
    Die Kanzlerin zeigt sich beim Trauergottesdienst in der Gedächtniskirche am Dienstagnachmittag sichtlich bewegt. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Der Anschlag hat laut diesem Plakat an der Gedächtniskirche „Das Herz Berlins getroffen“.
    Der Anschlag hat laut diesem Plakat an der Gedächtniskirche „Das Herz Berlins getroffen“. © dpa | Michael Kappeler
    Das französische Parlament hielt am Nachmittag eine Schweigeminute ab in Gedenken an die Opfer aus Berlin.
    Das französische Parlament hielt am Nachmittag eine Schweigeminute ab in Gedenken an die Opfer aus Berlin. © dpa | Christophe Petit Tesson
    Trauernde am Dienstagabend in der Nähe des Anschlagsorts.
    Trauernde am Dienstagabend in der Nähe des Anschlagsorts. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Hunderte Kerzen hatten sich an der Gedächtniskirche angesammelt, als die Sonne am Dienstag untergegangen war.
    Hunderte Kerzen hatten sich an der Gedächtniskirche angesammelt, als die Sonne am Dienstag untergegangen war. © Getty Images | Michele Tantussi
    Das  Brandenburger Tor erstrahlte am Dienstagabend in Schwarz-Rot-Gold.
    Das Brandenburger Tor erstrahlte am Dienstagabend in Schwarz-Rot-Gold. © Reto Klar
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    Da der mutmaßliche Terrorist nach Italien floh, wird auch dort nach Helfern gesucht. Ermittler durchsuchten mehrere Wohnungen, wie die Nachrichtenagentur Ansa berichtet. Nachdem Amri 2011 als Flüchtling in das Land gekommen war, hatte er dort mehrere Jahre im Gefängnis gesessen. Italiens Ministerpräsident Paolo Gentiloni zufolge gibt es bisher keinen Hinweis auf ein Netzwerk Amris.

    Nur wenige Minuten vor der Tat in Berlin soll Amri laut Berichten von „Süddeutscher Zeitung“, NDR, WDR und „Focus“ aus dem Führerhaus des Lastwagens mit einem Glaubensbruder gechattet und ein Selfie verschickt haben. In Berlin war am Mittwoch ein tunesischer Landsmann Amris vorläufig festgenommen worden, weil der Verdacht bestand, er sei ein Kontaktmann Amris gewesen. Der Verdacht bestätigte sich nach Angaben der Bundesanwaltschaft nicht, der Mann wurde wieder entlassen. (dpa/jkali)

    Nach Berlin-Anschlag verdächtigter Tunesier kommt wieder frei

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