Kairo/Tunis. Tunesien, die Heimat des Verdächtigen nach dem Berliner Lkw-Attentat, ist ein Hotspot des Dschihadismus. Wie konnte es soweit kommen?

Wo das Auge hinreicht, herrscht staubige Einöde. Wie viele Städtchen im Süden Tunesiens ist auch Tataouine ein trostloser Flecken am Rande der Wüste. Einst diente die Gegend als Kulisse für den Film „Krieg der Sterne“. Hier soll der 24-jährige Anis Ben Othman Amri geboren worden sein, der jetzt in ganz Europa als Attentäter von Berlin gesucht wird.

Seine Eltern und Geschwister werden von tunesischen Anti-Terror-Spezialisten verhört, die Familie ist inzwischen weggezogen. 40 Prozent der 100.000 Einwohner von Tataouine sind arbeitslos, alle Hoffnungen auf ein besseres Leben nach dem Arabischen Frühling 2011 sind zerstoben. Der Wüstentourismus, einst wichtige Einkommensquelle, ist kaputt. Stattdessen hat die Nähe zu Libyen die Stadt zu einer Hochburg der Dschihadisten gemacht.

Das doppelte Gesicht Tunesiens

In der abgelegenen Region tummeln sich IS-Kämpfer zusammen mit Waffen- und Menschenschmugglern. Vor sieben Monaten starben vier Polizisten, als sie während einer Razzia in einen Hinterhalt gerieten. Im März versuchte in der 120 Kilometer entfernten Grenzstadt Ben Gardane ein Kommando aus hundert Dschihadisten sogar, ein Mini-Kalifat auf tunesischem Boden zu errichten. Bei den tagelangen Gefechten starben Dutzende Soldaten und Extremisten, die anderen entkamen nach Libyen.

Tunesien hat ein Doppelgesicht. Zum einen ist die Nation die Wiege des Arabischen Frühlings und das einzige arabische Land, was bisher den Sprung aus der Diktatur in eine Demokratie geschafft hat. Zum anderen ist der kleine Mittelmeeranrainer ein brisanter Hotspot des Dschihadismus.

Mehr als 3000 Tunesier in Syrien und im Irak

Kein anderer arabischer Staat hat – gemessen an der Bevölkerungszahl – mehr ausländische „Gotteskrieger“ beim IS. Über 3000 Tunesier sind nach Syrien und Irak gezogen, um für den selbsternannten Kalifen Abu Bakr Al-Baghdadi zu kämpfen. Weitere 500 gingen über die Grenze ins Nachbarland Libyen, um dort beim Aufbau des IS-Kalifats in Sirte dabei zu sein. 12.000 radikalisierte junge Männer und Frauen dagegen konnte die tunesische Polizei nach eigenen Angaben an der Ausreise hindern.

2015 kamen bei drei großen IS-Attentaten in Tunis und Sousse mehr als 60 Menschen ums Leben. Seitdem scheint es, hat die Polizei die Lage besser im Griff, auch weil mit europäischer Hilfe 168 der 520 Kilometer langen Grenze zu Libyen mit Betonmauern, Sandwällen und Gräben nun besser gesichert sind.

Viele Kinder der Mittelklasse

Doch nicht nur frustrierte junge Arbeitslose aus vergessenen Winkeln Tunesiens wie Tataouine lassen sich vom IS anwerben. Erstaunlich viele „Gotteskrieger“ stammen auch aus Mittelklassefamilien quer durch die Gesellschaft, waren Studenten, angestellt im öffentlichen Dienst oder hatten gut bezahlte Berufe im Privatsektor – darunter Söhne von Professoren, Offizieren und hohen Beamten.

Ihre Familien fielen aus allen Wolken, als sich ihr Sprösslinge plötzlich aus Raqqa oder Mosul meldeten. In jüngster Zeit jedoch scheint sich das Blatt für das „Islamische Kalifat“ zu wenden, so dass immer mehr tunesische IS-Kämpfer in ihre Heimat zurückkehren. Erst Anfang Dezember gelang es libyschen Regierungsmilizen nach monatelangen Gefechten, die Terrormiliz aus Sirte zu vertreiben, dem Geburtsort des 2011 gestürzten libyschen Diktators Muammer Gaddhafi.

Gefahr für die junge Demokratie

Bis zu 5000 Kämpfer sollen sich nach Angaben des Pentagon in der IS-Hochphase in der Küstenstadt aufgehalten haben, bei den Kämpfen gestorben, verwundet oder festgenommen wurden lediglich 500. Der Rest ist spurlos verschwunden.

Und viele dieser waffenerprobten Extremisten könnten demnächst wieder in ihrer Heimat auftauchen – für den tunesischen Islamisten-Forscher Hadi Yahmed einer der größten Gefahren für die junge Demokratie. Denn die tunesischen Sicherheitsbehörden, so kritisiert er, „haben keinen Plan, wie sie der Gefahr durch diese Rückkehrer begegnen sollen.“

Jäger: Behörden hatten Verdächtigen für Berlin-Anschlag bereits im Visier

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    Nur wenige Abschiebungen aus Deutschland

    In Deutschland mahlen die Mühlen bei der Abschiebung nach Tunesien nach wie vor sehr langsam. Im März unterzeichnete Innenminister Thomas de Maizière (CDU) in Tunis eine Vereinbarung, um die Verfahren zu beschleunigen. Im April wurden dann die ersten 24 Tunesier in einer Sammelabschiebung von Leipzig nach Tunesien geflogen – bis Ende Oktober folgten fünf weitere Charterflüge mit insgesamt 60 Personen. Ausreisepflichtig nach Tunesien jedoch waren 718 abgelehnte Asylbewerber (Stand Ende Juli).

    Denn nach wie vor scheitern die meisten Abschiebungen nach Nordafrika, wie auch bei dem Tatverdächtigen von Berlin. Gründe sind vor allem fehlende Ausweise, Streit um die Identität der Personen sowie mangelnde Kooperationsbereitschaft der Behörden in Tunesien, Algerien und Marokko.

    Probleme mit den Papieren

    Die nötigen Ersatzpapiere für Pässe zu beschaffen, ist extrem aufwändig, obendrein stellen die Nordafrikaner diese Rückreisepapiere nur mit wenigen Tagen Gültigkeit aus. Für die sechs Sammelabschiebungen jedoch übergab die tunesische Botschaft erstmals 90 Tage gültige Personaldokumente. Auch die Identitäten der Tunesier seien schneller geklärt worden als früher, teilte die Landesregierung in Dresden mit. Die meisten tunesischen Asylbewerber, von denen etwa 0,2 Prozent anerkannt werden, leben in Sachsen.

    Trauer um Opfer des Anschlags von Berlin

    Nur wenige Stunden nach dem Anschlag: Nahe des Weihnachtsmarkts an der Berliner Gedächtniskirche, in den ein Lkw gerast war und dabei mehrere Menschen tötete, legten Trauernde erste Blumen nieder.
    Nur wenige Stunden nach dem Anschlag: Nahe des Weihnachtsmarkts an der Berliner Gedächtniskirche, in den ein Lkw gerast war und dabei mehrere Menschen tötete, legten Trauernde erste Blumen nieder. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Der Morgen danach in der Nähe des Tatorts: „Ich bin Berlin – für mehr Menschlichkeit & Mitgefühl“, steht auf dem Zettel.
    Der Morgen danach in der Nähe des Tatorts: „Ich bin Berlin – für mehr Menschlichkeit & Mitgefühl“, steht auf dem Zettel. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Viele Menschen bekundeten ihre Trauer auf dem Platz vor der Gedächtniskirche.
    Viele Menschen bekundeten ihre Trauer auf dem Platz vor der Gedächtniskirche. © REUTERS | PAWEL KOPCZYNSKI
    Auch Schilder an den Straßen nahe der Gedächtniskirche erinnerten am Dienstag an den Anschlag vom Vorabend.
    Auch Schilder an den Straßen nahe der Gedächtniskirche erinnerten am Dienstag an den Anschlag vom Vorabend. © dpa | Michael Kappeler
    Diese Frau betet für die Opfer der Todesfahrt. Zwölf Menschen waren am Montagabend ums Leben gekommen, viele weitere wurden schwer verletzt.
    Diese Frau betet für die Opfer der Todesfahrt. Zwölf Menschen waren am Montagabend ums Leben gekommen, viele weitere wurden schwer verletzt. © REUTERS | PAWEL KOPCZYNSKI
    „Das Licht ist stärker als die Dunkelheit“, steht auf dem Plakat, das dieser Passant in der Nähe des Anschlagsorts befestigt.
    „Das Licht ist stärker als die Dunkelheit“, steht auf dem Plakat, das dieser Passant in der Nähe des Anschlagsorts befestigt. © dpa | Rainer Jensen
    An allen Ecken der Schutzplane, die um den Anschlagsort aufgespannt wurde, legten die Menschen Blumen und Kerzen nieder.
    An allen Ecken der Schutzplane, die um den Anschlagsort aufgespannt wurde, legten die Menschen Blumen und Kerzen nieder. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    „In uns lebt ihr weiter“, steht auf einem Zettel, den jemand nahe des Anschlagsorts zusammen mit Kerzen niedergelegt hat.
    „In uns lebt ihr weiter“, steht auf einem Zettel, den jemand nahe des Anschlagsorts zusammen mit Kerzen niedergelegt hat. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Ein Moment des Innehaltens mitten in der Rush Hour. Eine Frau und ein Mann stehen vor der Gedächtniskirche und gedenken der Opfer.
    Ein Moment des Innehaltens mitten in der Rush Hour. Eine Frau und ein Mann stehen vor der Gedächtniskirche und gedenken der Opfer. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Die brandenburgische Fahne weht in Potsdam auf Halbmast Für den Dienstag ordnete Innenminister Thomas de Maizière für das gesamte Land Trauerbeflaggung an.
    Die brandenburgische Fahne weht in Potsdam auf Halbmast Für den Dienstag ordnete Innenminister Thomas de Maizière für das gesamte Land Trauerbeflaggung an. © dpa | Ralf Hirschberger
    In der Gedächtniskirche zünden Menschen Kerzen des Gedenkens an.
    In der Gedächtniskirche zünden Menschen Kerzen des Gedenkens an. © REUTERS | PAWEL KOPCZYNSKI
    Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller trägt sich in der Gedächtniskirche in Berlin in das Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlags ein.
    Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller trägt sich in der Gedächtniskirche in Berlin in das Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlags ein. © dpa | Maurizio Gambarini
    Auch die Fahnen vor dem Reichstag wehen am Tag nach dem Anschlag auf Halbmast.
    Auch die Fahnen vor dem Reichstag wehen am Tag nach dem Anschlag auf Halbmast. © dpa | Paul Zinken
    Den ganzen Tag über suchten Menschen den Weg zur Gedächtniskirche, um Blumen und Kerzen niederzulegen.
    Den ganzen Tag über suchten Menschen den Weg zur Gedächtniskirche, um Blumen und Kerzen niederzulegen. © Getty Images | Michele Tantussi
    Eine der vielen Botschaften, die auf Zetteln und Plakaten am Anschlagsort zu lesen sind: „Kriege führen zu mehr Terrorismus – Terrorismus verletzt ausnahmslos alle Menschen“.
    Eine der vielen Botschaften, die auf Zetteln und Plakaten am Anschlagsort zu lesen sind: „Kriege führen zu mehr Terrorismus – Terrorismus verletzt ausnahmslos alle Menschen“. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Europa sendet ein Zeichen der Solidarität: Die Fahnen vor dem Gebäude der EU-Kommission hängen auf Halbmast.
    Europa sendet ein Zeichen der Solidarität: Die Fahnen vor dem Gebäude der EU-Kommission hängen auf Halbmast. © dpa | Olivier Hoslet
    Bundespräsident Joachim Gauck äußerte sich am Dienstagnachmittag im Schloss Bellevue zum Anschlag in Berlin:  „Der Hass der Täter wird uns nicht zu Hass verführen“, sagte Gauck.
    Bundespräsident Joachim Gauck äußerte sich am Dienstagnachmittag im Schloss Bellevue zum Anschlag in Berlin: „Der Hass der Täter wird uns nicht zu Hass verführen“, sagte Gauck. © dpa | Bernd von Jutrczenka
    Eine Blume steht im Foyer des brandenburgischen Landtages neben dem Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlages.
    Eine Blume steht im Foyer des brandenburgischen Landtages neben dem Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlages. © dpa | Ralf Hirschberger
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) besuchte zusammen mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD) am Dienstagnachmittag den Anschlagsort.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) besuchte zusammen mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD) am Dienstagnachmittag den Anschlagsort. © dpa | Michael Kappeler
    Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in stillem Gedenken an die Opfer.
    Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in stillem Gedenken an die Opfer. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Die Kanzlerin zeigt sich beim Trauergottesdienst in der Gedächtniskirche am Dienstagnachmittag sichtlich bewegt.
    Die Kanzlerin zeigt sich beim Trauergottesdienst in der Gedächtniskirche am Dienstagnachmittag sichtlich bewegt. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Der Anschlag hat laut diesem Plakat an der Gedächtniskirche „Das Herz Berlins getroffen“.
    Der Anschlag hat laut diesem Plakat an der Gedächtniskirche „Das Herz Berlins getroffen“. © dpa | Michael Kappeler
    Das französische Parlament hielt am Nachmittag eine Schweigeminute ab in Gedenken an die Opfer aus Berlin.
    Das französische Parlament hielt am Nachmittag eine Schweigeminute ab in Gedenken an die Opfer aus Berlin. © dpa | Christophe Petit Tesson
    Trauernde am Dienstagabend in der Nähe des Anschlagsorts.
    Trauernde am Dienstagabend in der Nähe des Anschlagsorts. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Hunderte Kerzen hatten sich an der Gedächtniskirche angesammelt, als die Sonne am Dienstag untergegangen war.
    Hunderte Kerzen hatten sich an der Gedächtniskirche angesammelt, als die Sonne am Dienstag untergegangen war. © Getty Images | Michele Tantussi
    Das  Brandenburger Tor erstrahlte am Dienstagabend in Schwarz-Rot-Gold.
    Das Brandenburger Tor erstrahlte am Dienstagabend in Schwarz-Rot-Gold. © Reto Klar
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