Aleppo. 5000 Rebellen und 10.000 Zivilisten sollten den Osten der syrischen Stadt Aleppo am Donnerstag verlassen. Es waren deutlich weniger.
Die ersten Zivilisten und Verwundeten haben die Rebellengebiete in Ost-Aleppo verlassen und sind mit Bussen ins Umland der umkämpften Metropole transportiert worden. Nach türkischen Angaben hat am Abend ein zweiter Konvoi die umkämpfte nordsyrische Stadt verlassen. 1198 Menschen würden mit diesem zweiten Konvoi in Sicherheit gebracht, hieß es am Donnerstagabend aus türkischen Regierungskreisen. Bei den 577 Männern, 320 Frauen und 301 Kindern handele es sich um Zivilisten,
Beobachter und syrische Militärkreise hatten zuvor berichtet, dass ein erster Konvoi mit mehreren hundert Menschen Ost-Aleppo verlassen hatte. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sagte vermutlich mit Bezug auf diesen Konvoi, 1150 Menschen aus Aleppo seien in der nordsyrischen Region Idlib angekommen. Idlib wird von Rebellen gehalten, die von der Türkei unterstützt werden. Angesichts der Lage in der Stadt könnte sich die Evakuierungsmission aber noch länger hinziehen.
Die Tragödie von Aleppo in Bildern
UN erwarten bis zu 100.000 Flüchtlinge
Der pro-syrische TV-Sender Al-Mayadeen zeigte ab dem Mittag Bilder einer Kolonne mit grünen Bussen und Krankenwagen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und des Syrischen Arabischen Roten Halbmondes, die die Rebellengebiete verließen. Bei einer ersten Fahrt seien 951 Menschen aus der Stadt gebracht worden, hieß es aus syrischen Militärkreisen. Bei einem Drittel davon habe es sich um Kämpfer gehandelt.
Die Vereinten Nationen bereiten sich nach eigenen Aussagen darauf vor, dass bis zu 100.000 Menschen in die Provinz Idlib fliehen könnten. Die UN seien in Kontakt mit der Türkei, um weitere Flüchtlingslager zu errichten, weil die Menschen möglicherweise auch in der nordwestlichen Provinz Idlib nicht in Sicherheit seien, sagte UN-Nothilfekoordinator Jan Egeland.
In Ost-Aleppo halten sich noch Zehntausende Menschen auf, von denen viele in zerbombten Häusern untergekommen sind. Wegen einer monatelangen Blockade wird die humanitäre Lage dort immer katastrophaler. Es fehlt akut an Trinkwasser, Nahrung und medizinischer Versorgung. Weil es kaum Strom und Treibstoff gibt, können die Menschen trotz der Wintertemperaturen nicht heizen.
„Noch nie solches menschliches Leid gesehen“
„Ich habe noch nie zuvor dieses Ausmaß menschlichen Leids gesehen“, wird die die Leiterin der IKRK-Mission, Marianne Gasser, in einer Nachricht der Organisation auf Twitter zitiert. „Es ist schwer zu fassen, wie die Menschen überlebt haben“, fügte der Regionaldirektor des IKRK, Robert Mardini, hinzu.
Mehrere medizinische Hilfsorganisationen haben zu dringender Nothilfe für die Zivilisten aus der umkämpften syrischen Stadt Aleppo aufgerufen. Rund 70 000 Menschen würden im Zuge der Evakuierung aus der Stadt gebracht, teilten insgesamt 17 Organisationen am Donnerstag vor Journalisten in der türkischen Stadt Gaziantep mit. „Die Menschen verlassen Aleppo mit nichts“, warnte Mohammed Katub von Syrian American Medical Society (SAMS). „Der Winter ist sehr kalt und wir rechnen damit, dass Menschen durch das kalte Wetter sterben.“
Russen machen Rebellen Vorwürfe
Dem russischen Verteidigungsministerium zufolge sind die Rebellen aus ganz Aleppo verdrängt worden. Seit Beginn der Operation der syrischen Regierungstruppen hätten mehr als 3000 Kämpfer die Stadt verlassen, sagte Viktor Posnichir vom Generalstab in Moskau. „1524 von ihnen wurden amnestiert und entlassen, die anderen werden erst geprüft“, sagte er der Agentur Interfax zufolge. Syriens Präsident Baschar al-Assad erklärte die Stadt für befreit. Er gratulierte dem syrischen Volk; „Was heute in Aleppo passiert, wird Geschichte schreiben.“
Posnichir warf den Rebellen Gräueltaten in Aleppo vor. In Gefängnissen seien Zivilisten gefoltert worden, und kurz vor dem Eintreffen der syrischen Regierungstruppen sei der Großteil der Gefangenen getötet worden. „Das Dokumentieren der Gräueltaten hat begonnen. Es gibt viele Foto- und Videobeweise“, sagte er. „Als eine der Maßnahmen zur Abschreckung wurden die Eltern im Beisein ihrer Kinder erschossen“, teilte Posnichir mit.
Rebellen melden Angriff auf Krankentransport
Die staatliche Agentur berichtete, dass „Terroristen und ihre Familien“ aus dem Süden der verbliebenen Rebellengebiete in Ost-Aleppo ins Umland der früheren Metropole gebracht werden sollen. Das Gebiet steht unter Kontrolle der Opposition.
Zuvor hatten Rebellen berichtet, dass regierungstreue Milizen den ersten Krankentransport angegriffen hätten, der sich auf den Weg aus dem Osten Aleppos gemacht hatte. Der Leiter des Rettungsdienstes hatte von drei Verletzten gesprochen. Das Rote Kreuz und der Rote Halbmond sind mit 100 Freiwilligen und 20 Ambulanz-Fahrzeugen vor Ort.
Akuter Mangel an Trinkwasser, Nahrung und Medizin
Regierungstruppen hatten seit Beginn einer Offensive den größten Teil der von oppositionellen Milizen kontrollierten Gebiete Aleppos eingenommen. In den noch verbliebenen Vierteln der Rebellen halten sich noch Zehntausende Zivilisten auf. In Syriens Bürgerkrieg kämpfen das Regime, Rebellengruppen und Terrormilizen um die Macht. Rund 400.000 Menschen kamen seit Beginn der Kämpfe 2011 ums Leben. Millionen Männer, Frauen und Kinder sind auf der Flucht. (dpa/rtr)