Berlin. Immer öfter diagnostizieren Ärzte laut einer Studie Störungen bei der Sprachentwicklung. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen.

  • Die Zahl der Sprachstörungen ist stark gewachsen. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen
  • Fehlende Förderung ist eine der Hauptursachen - zum Beispiel in Migrations-Familien
  • Experten sehen zudem den steigenden Medienkonsum als Grund für die Entwicklung

Sie lispeln oder stottern, bauen ihre Sätze falsch zusammen oder kennen gerade mal ein paar hundert Wörter: Die Zahl der Kinder mit Sprachproblemen hat deutlich zugenommen. Kinderärzte diagnostizierten im vergangenen Jahr bei jedem achten Kind im Alter von fünf bis 14 Jahren Störungen bei der Sprachentwicklung. Vier Jahre zuvor hatte nur jedes Zehnte in dieser Altersgruppe Defizite.

Nach einer neuen Studie der Krankenkasse Barmer GEK sind Jungen deutlich häufiger betroffen als Mädchen: Während im letzten Jahr 9,4 Prozent der Mädchen zwischen fünf und vierzehn Jahren von Kinderärzten Sprachdefizite bescheinigt bekamen, waren es bei den Jungen 14,4 Prozent. Die Analyse der Versichertendaten, die dieser Zeitung exklusiv vorliegt, zeigt zudem, dass es bei der Anzahl der Diagnosen kaum regionale Unterschiede gibt: In Hamburg und Schleswig-Holstein, aber auch in Berlin oder Sachsen stieg der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Störungen bei der Sprachentwicklung wie im Bundesdurchschnitt innerhalb der letzten vier Jahre von rund zehn Prozent auf zwölf Prozent an, in Brandenburg von elf auf 13 Prozent, in Bayern von neun auf zwölf Prozent, in Thüringen von neun auf elf.

Sprachstörungen haben ihre Ursache auch in ungenügender Förderung

Hochgerechnet auf alle gesetzlich versicherten Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren diagnostizierten die Kinderärzte laut Studie bei rund 715.000 jungen Patienten Sprachstörungen. 2011 waren es noch 648.000 Kinder.

„Wir beobachten seit Jahren, dass Sprachstörungen bei Kindern zunehmen“, sagt Hermann Josef Kahl vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). „Viele Eltern fördern ihre Kinder nicht genug.“ Sie stellten Säuglinge mit Handy-Filmchen ruhig und setzten schon Kleinkinder stundenlang vor den Fernseher. „Sie geben ihre Verantwortung an die digitalen Medien ab“, beklagt der Kinderarzt gegenüber dieser Zeitung. Eltern müssten stattdessen viel mehr mit ihren Kindern sprechen, singen und lesen. Mütter und Väter seien die besten Logopäden: „Wer sein Kind nicht beim Sprechen fördert, vernachlässigt es.“

Nicht die Kitas und die Schulen seien hier als erstes in der Pflicht, sondern die Eltern. Es falle auf, sagt Kahl, dass viele Kinder mit Sprachdefiziten aus bildungsfernen Familien kämen. „Aber das ist kein Automatismus: Es gibt auch Eltern ohne höhere Schulbildung, die sich große Mühe mit ihren Kindern geben.“

Kinder aus Zuwandererfamilien haben mehr Probleme

Der Anstieg der Diagnosen liegt in den Augen des BVKJ aber auch daran, dass es immer mehr Kinder aus Zuwandererfamilien gibt, die mit Sprachdefiziten in die Kinderarztpraxen kommen. „Oft sind das Kinder aus türkisch-arabischen Familien“, beobachtet Kahl. „Dabei ist es für die Ärzte oft schwer zu erkennen, ob das Kind Probleme beim Sprechenlernen hat oder nur zu wenig Deutsch kann.“ Die Ärzte seien hier in der Bredouille: „Viele verordnen in solchen Fällen Sprachförderung, damit die Kinder den Anschluss nicht verpassen.“ Doch Kahl warnt auch hier vor pauschalen Urteilen: „Es gibt auch viele Zuwandererkinder, die zwei oder drei Sprachen fließend sprechen.“

Barmer-Vorstandschef Christoph Straub sorgt sich angesichts der steigenden Diagnosezahlen auch um die Spätfolgen: „Sprachstörungen können die Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen, verzögern und dazu führen, dass es ein Stück weit stigmatisiert wird oder einmal schlechtere Karrierechancen hat.“ Es sei auffällig, dass immer mehr Schulkinder unter Sprachentwicklungsstörungen leiden. Auch der Kassen-Chef hat den zunehmenden Medienkonsum im Verdacht: „Kinder müssen heute zwar auch digitale Kompetenzen aufbauen, die PC-Nutzung darf aber nicht exzessiv sein“, so Straub.

Sprachliche Spätentwickler werden „Late Talker“ genannt

Nach der Analyse der Krankenkasse wird eine Sprachentwicklungsstörung am häufigsten bei Kindern im Alter von vier bis fünf Jahren diagnostiziert. Im Jahr 2015 waren 28 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Jungen betroffen. Anders als bei den älteren Kindern hat der Anteil der zunächst auffälligen Kinder in dieser Altersgruppe in den vergangenen Jahren kaum zugenommen – bei vielen dieser Kinder normalisiert sich zudem die Sprachentwicklung in den folgenden Jahren.

Den Kassen-Experten zufolge können Eltern heute schon früh erkennen, ob ihr Kind sprachliche Defizite aufweist. Wenn es zum Beispiel mit 24 Monaten weder 50 Wörter beherrscht noch Zwei-Wort-Kombinationen bilden kann, sich in anderen Bereichen aber altersentsprechend verhält, gilt es als „Late Talker“, als sprachlicher Spätentwickler. Zwei Drittel dieser Kinder, das zeigen Studien, haben noch mit drei Jahren Sprachauffälligkeiten, 16 Prozent auch noch im Einschulungsalter.