Brüssel. Noch ist Martin Schulz EU-Parlamentspräsident, doch er strebt weitere höchste Ämter an – will er Gabriel die Kanzlerkandidatur nehmen?

Was will Martin Schulz? Darauf haben sie in Brüssel seit langem eine Standard-Antwort: „Alles!“ Das ist nur leicht übertrieben – dass der ehrgeizige Präsident des Europa-Parlaments grundsätzlich und schwindelfrei hohe und höchste Ämter anpeilt, darf als gesicherte Erkenntnis gelten.

Derzeit im Visier: Fortsetzung der Leitung des Hohen Hauses zu Straßburg, die Nachfolge des Außenministers und designierten Bundespräsidenten Steinmeier sowie die SPD-Kanzlerkandidatur. Für sämtliche Optionen hält sich der 60-Jährige im Gespräch, zu keiner hat er sich bislang definitiv bekannt. Die Erwartung wächst, der Alleskönner möge sich erklären. Zumal von der Willensbildung des Mannes aus dem rheinischen Würselen andere betroffen sind.

Zum Beispiel Sigmar Gabriel. Aus dessen Dunstkreis stammt das jüngste Gerücht: Schulz habe vom SPD-Chef das Außenministerium angeboten bekommen, wolle aber mehr, nämlich die Kanzlerkandidatur. Auf die hat nach ungeschriebenem Gesetz der Vorsitzende selbst den ersten Zugriff – wer ihm den streitig macht, vergeht sich am Genossen-Anstand und überschreitet die Grenze zwischen Selbstbewusstsein und Größenwahn. So fielen die Dementis saftig aus („Schwachsinn“). Schulz selbst spottete über „empiriefreien Journalismus“. Wer da wen mit welchen Finten unter Druck zu setzen versucht, ist vorerst offen.

Selbst Christdemokrat und Kommissionspräsident Juncker unterstützt ihn

Im Europa-Parlament verfolgen sie das Gerangel zunehmend genervt. Zuletzt hatte der Präsident, dessen Amtszeit im Januar endet, den Eindruck erweckt, er sehe seinen Platz weiter „in Europa“. Das entspricht den Vorstellungen der meisten Genossen der sozialdemokratischen S+D-Fraktion. Der Außenpolitik-Experte Knut Fleckenstein ist sicher: „Martin Schulz bleibt Präsident!“

Auch jenseits des eigenen Lagers hat sich der Amtsinhaber prominente Unterstützung gesichert. Kommissionschef Juncker, Schulzens Gegner als Spitzenkandidat der christdemokratischen EVP bei den Europa-Wahlen 2014, hat sich für seinen Kumpel Martin stark gemacht. Die beiden verstehen sich als Bollwerk gegen populistische Angriffe auf das Haus Europa. Auch Donald Tusk, Chef des Europäischen Rates und ebenfalls EVP-Mann, hat sich für Schulz ausgesprochen.

Führung aller drei EU-Hauptinstitutionen wäre sonst bei Christdemokraten

Die EVP-Fraktion unter ihrem soeben wiedergewählten Chef Manfred Weber (CSU) pocht hingegen auf eine Vereinbarung aus dem Jahre 2014. Danach stellen die Sozialdemokraten den Parlamentspräsidenten in der ersten Hälfte der Legislaturperiode, die EVPler in der zweiten. An der Existenz des Deals gibt es keinen Zweifel. Was Martin Schulz nicht gehindert hat, seine Amtsverlängerung zu betreiben. Hauptargument: Sonst käme die Führung aller drei EU-Hauptinstitutionen in die Hände der Schwarzen und das könne in Zeiten der Bedrängnis durch Europafeinde die Handlungsfähigkeit der EU gefährden.

Bei der Abwehr solcher Ansprüche hat Weber ein Problem: Die EVP-Bewerber können dem Amtsinhaber das Wasser nicht reichen. Der Italiener Tajani, der Franzose Lamassoure, der Österreicher Karas, die Irin McGuinness, der Slowene Peterle – keiner könnte sicher sein, sich als Kandidat der stärksten Fraktion bei der Wahl im Plenum Mitte Januar gegen Schulz zu behaupten.

All das hätte sich erledigt, sollte Schulz nach Berlin wechseln. Als Außenminister wäre er – vielsprachig, international erfahren und erstklassig vernetzt – eine plausible Besetzung. Zudem wäre es die Abrundung eines persönlichen Projekts: den Beweis zu liefern, dass die EU für deutsche Politiker nicht Sackgasse ist, sondern Etappe sein kann auf dem Weg zu nationalen Spitzenpositionen.