Merzig. Linken-Fraktionschefin Wagenknecht sieht geringe Chancen für Rot-Rot-Grün im Bund – und warnt vor einem Kanzlerkandidaten Gabriel.

Sahra Wagenknecht liebt die Idylle im Saarland. „Das ist das Kontrastprogramm zum hektischen Berlin, ideal zum Ausspannen“, sagt sie. Mit Oskar Lafontaine, ihrem Mann, steigt sie oft aufs Rad. „Wenn wir Zeit haben, fahren wir gut 100 Kilometer am Tag.“

Merzig, eine Kleinstadt an der Grenze zu Frankreich, ist zur neuen Heimat der 47-Jährigen geworden, die in Jena geboren ist, ihren Wahlkreis in Düsseldorf hat und die Linksfraktion im Bundestag führt. In einem Café am Rathaus skizziert Wagenknecht ihre Ziele für das Wahljahr.

Frau Wagenknecht, Sie und Ihr Co-Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch waren lange Zeit wie Tom und Jerry. Könnten Sie zusammen erfolgreiche Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl sein?

Sahra Wagenknecht: Immerhin führen wir seit gut einem Jahr nicht ohne Erfolg die Bundestagsfraktion: Die Linke steht heute in allen Umfragen besser da als 2013, trotz Erstarken der AfD. Auch das Klima in der Fraktion ist besser geworden. Es gibt zwischen Dietmar Bartsch und mir ein Vertrauensverhältnis, wir arbeiten gut zusammen. Das ist die Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlkampf.

Welches Wahlziel setzen Sie der Linkspartei?

Wagenknecht: Ich wünsche mir für die Bundestagswahl ein klares Signal, dass das Weiter-so der großen Koalition abgewählt wird und die soziale Frage endlich auf die Tagesordnung kommt. Seit Jahren wächst in Deutschland die Ungleichheit, viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht mehr leben, immer mehr Ältere werden mit Armutsrenten gedemütigt.

Aber solche Verhältnisse ändert nicht, wer AfD wählt, weil diese Partei genauso für einen schwachen Sozialstaat und Privatisierungen eintritt. Ein gut zweistelliges Ergebnis der Linken würde die anderen Parteien, vor allem die SPD, unter Druck setzen, sich endlich wieder um die sozialen Interessen der Mehrheit zu kümmern.

Sie setzen wieder auf Steuererhöhungen. Was muss passieren, bevor die Linke an die Entlastung von Bürgern und Unternehmen denkt?

Wagenknecht: Wir fordern Steuersenkungen für die Mehrheit, nämlich für Mittel- und Geringverdiener. Es ist doch skandalös, dass ab einem Einkommen von 1140 Euro ein Steuersatz von 24 Prozent fällig wird, während Konzerne wie Apple, Amazon oder Starbucks in Europa mit Steuersätzen von 0,005 Prozent verwöhnt werden.

Es ist völlig verständlich, dass sich die Menschen von so einer Politik über den Tisch gezogen fühlen. Wir wollen, dass Großunternehmen und Superreiche angemessen Steuern zahlen. Dafür fordern wir unter anderem eine Millionärsteuer und die ordentliche Besteuerung großer Erbschaften.

„SPD macht seit Jahren Politik gegen eigene Wähler“

In den Umfragen reicht es gerade nicht einmal für ein rot-rot-grünes Dreierbündnis. Welche Machtperspektive sehen Sie?

Wagenknecht: Es reicht deshalb nicht, weil die SPD seit Jahren Politik gegen ihre eigenen Wähler macht. Warum sollen Arbeitnehmer und Rentner eine Partei wählen, die einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen und die gesetzliche Rente zerstört hat. Zuletzt hat Sigmar Gabriel wie ein Löwe für das Konzernschutzabkommen Ceta gekämpft. Bei der Erbschaftsteuer ist er ohne Not auf den Kurs von Horst Seehofer eingeschwenkt. Solange die SPD nicht signalisiert, dass sie etwas anderes will als ein Weiter-so, laufen ihr die Wähler weg.

Unter welchen Bedingungen wären Sie überhaupt bereit, mit SPD und Grünen zu koalieren?

Wagenknecht: Die Grundrichtung der Politik muss sich ändern: SPD und Grüne sind seit Jahren Teil jenes unrühmlichen Parteienkartells, das den Sozialstaat zerstört hat. Wir wollen den Sozialstaat wiederherstellen. Wir brauchen keinen Riester-Schwachsinn, der nur die Finanzindustrie reich macht, sondern eine auskömmliche gesetzliche Rente. Dafür müssen alle einzahlen, auch Selbstständige, Beamte und Politiker.

Wir brauchen wieder eine anständige Arbeitslosenversicherung. Außerdem muss die Lohndrückerei durch Leiharbeit und Werkverträge beendet werden. In der Außenpolitik sollte Deutschland zur Tradition der Entspannungspolitik zurückkehren ...

... unter der Sie was verstehen?

Wagenknecht: Interessenausgleich statt Eskalation von Konflikten durch Hochrüstung und Kriegseinsätze. Die angeblichen Anti-Terror-Kriege haben diese Welt nicht friedlicher gemacht, sondern letztlich den Terrorismus gestärkt – und ihn nach Deutschland geholt. Die Bundeswehr aus Afghanistan und Syrien abzuziehen, wäre das Beste, was wir für unsere Sicherheit tun könnten.

Klingt nicht, als wollten Sie regieren.

Wagenknecht: Wie bitte? Über 40 Jahre ist die Bundesrepublik gut damit gefahren, ihre Soldaten im eigenen Land zu lassen. Für Willy Brandt war Krieg die „ultima irratio“, also kein Mittel der Politik. Wenn die SPD heute solche Positionen als „regierungsunfähig“ abqualifiziert, ist das ein trauriges Zeugnis ihres eigenen Niedergangs.

„Deutschland wird nicht in Afghanistan verteidigt“

Müsste die Beendigung aller Auslandseinsätze der Bundeswehr vereinbart werden, bevor Sie einen Koalitionsvertrag unterschreiben?

Wagenknecht: Wenn wir armen Ländern nach Katas­trophen helfen, Brunnen bohren oder Schulen bauen, ist das begrüßenswert. Dafür braucht es aber keine Bundeswehr. Das Technische Hilfswerk, besser ausgestattet, würde genügen. Kriegseinsätze der Bundeswehr wird die Linke niemals unterstützen. Sie sind auch grundgesetzwidrig. Die Bundeswehr hat die Aufgabe, Deutschland zu verteidigen. Deutschland wird aber weder in Mali noch in Afghanistan noch in Syrien verteidigt.

Wäre ein SPD-Kanzlerkandidat Sigmar Gabriel ein Argument für oder eher gegen Rot-Rot-Grün?

Wagenknecht: Wäre ich führender SPD-Politiker, würde mir das Ergebnis der US-Wahl zu denken geben. Die Demokraten haben den profilierten Linken Bernie Sanders verhindert, um dann mit einer unglaubwürdigen Hillary Clinton Schiffbruch zu erleiden. Clinton stand für Beliebigkeit, Käuflichkeit und Gleichgültigkeit gegenüber der sozialen Spaltung des Landes. Viele haben Trump gewählt, weil sie dieses Weiter-so abwählen wollten. Ich finde, das sollte die SPD ernst nehmen.

Wer ist der Bernie Sanders der SPD?

Wagenknecht: Tja. Da muss Herr Gabriel auf Suche gehen. In einer großen Partei wie der SPD muss es auch noch echte Sozialdemokraten geben, die in den Augen der Wähler glaubwürdig sind. Sigmar Gabriel dagegen steht für die Politik seit der Jahrtausendwende, also dafür, dass sich die SPD mit den wirtschaftlich Mächtigen arrangiert – und ihre traditionellen Wähler im Stich lässt.

Manche Äußerungen aus der Linkspartei klingen, als kämen sie von der AfD. Wollen Sie so die Wähler zurückgewinnen, die in Scharen zu den Rechtspopulisten abgewandert sind?

Wagenknecht: Natürlich möchten wir jeden Wähler gewinnen, der empört und wütend ist über wachsende Ungerechtigkeiten. Dass die AfD solche Wähler überhaupt erreicht hat, funktioniert ja nur, weil sie so tut, als würde sie sich für ihre sozialen In­teressen einsetzen. Aber wenn Sie sich das Programm der AfD ansehen, klingt das eher wie der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU oder die FDP. Merkel hat der AfD durch ihre planlose Flüchtlingspolitik viele Wähler verschafft. Es wäre verantwortungslos, sich damit abzufinden.

Sie selbst haben nach den Silvestervorfällen am Kölner Hauptbahnhof gesagt: „Wer sein Gastrecht missbraucht, hat es verwirkt.“ Das könnte genauso von der AfD-Vorsitzenden Petry kommen ...

Wagenknecht: ... oder von Politikern der SPD und der CDU/CSU, die das auch alle schon gesagt haben. Ich habe diesen Satz nicht wiederholt, weil er missverstanden wurde. Aber der Anspruch, dass alle, die in Deutschland leben – Flüchtlinge wie Einheimische –, die hiesigen Regeln und Gesetze akzeptieren müssen, ist nicht AfD, sondern vernünftig.