Catania/Pozzallo. Auf Sizilien sind Chaos, aber auch eine neue Ordnung in der Krise spürbar. Doch noch immer liegen Tod und Hoffnung nah beieinander.

Etwa 1000 Menschen hatten überlebt. Sie hockten an Deck auf den Holzplanken der „Siem Pilot“, dicht an dicht, Frauen und Männer getrennt. Von der Crew durchsucht nach Messern, die Frauen manchmal zum Schutz mit sich tragen, ihre Schultern in Decken gewickelt, erstversorgt mit Trinkwasser und Energieriegel: Seenotrettung aus sinkenden Schlauchbooten – wiederkehrende Dramen auf dem Mittelmeer. Nur zwei Männer fielen Frontex-Kommandant Pal Erik Teigen an diesem Tag auf. Denn sie trugen Schuhe.

Ein Zufall? Unachtsamkeit? Oder sind es Schlepper? Der norwegische Polizist meldete die beiden später den italienischen Kollegen. Sonst steigen an der libyschen Küste immer alle barfuß in die wackeligen Boote der Schlepper, auf ihrer Flucht über das Meer, 500 Kilometer bis Sizilien. Niemand trägt Schuhe. „Die Metallschnallen oder Sohlen könnten das Gummi zerreißen“, sagt Teigen. Und das Boot sinkt. „So schäbig ist die Qualität mittlerweile.“

Ruhe ist auf Sizilien nicht

Die Sache mit den Schuhen ist eine der Geschichten, die selten von Bord der „Siem Pilot“ im Hafen von Sizilien in die Welt dringen. Aber es sind Geschichten, die Kommandant Teigen mit nach Hause nehmen wird, wenn seine Zeit bei der Frontex-Mission im Mittelmeer bald beendet ist.

Jetzt liegt sein Schiff ruhig im Hafen von Catania, der zweitgrößten Stadt der Insel. Aber Ruhe ist auf Sizilien nicht. Eher Alarm. Laut der EU-Grenzschutzagentur erreichten 27.500 Flüchtlinge die italienische Küste im Oktober – doppelt so viele wie im Monat zuvor. Und noch nie zählten sie mehr. 2016 brachten Schiffe bereits 160.000 Menschen aus der Seenot nach Italien, 13 Prozent mehr als 2015. 113.000 landeten allein auf Sizilien.

Kühlcontainer für die Leichen

Ein Arzt trägt im Hafen von Palermo zwei Kinder von der „Siem Pilot“. Das Schiff wird zur Flüchtlingsrettung eingesetzt.
Ein Arzt trägt im Hafen von Palermo zwei Kinder von der „Siem Pilot“. Das Schiff wird zur Flüchtlingsrettung eingesetzt. © dpa | Mike Palazzotto

Und mehr als 4000 Menschen starben allein 2016 auf dem Mittelmeer. Die „Siem Pilot“ war vor der EU-Mission als Versorgungsschiff in der norwegischen Ölindustrie eingesetzt. Jetzt patrouillieren Polizisten mit dem Schiff vor Italien. Und an Deck steht ein Kühlcontainer für die Leichen, die sie aus dem Wasser ziehen.

Am Pier gegenüber legt an diesem Novembermittwoch ein Schiff der italienischen Küstenwache an. Hunderte Männer steigen nach und nach über die Gangway, auch sie eingehüllt in Decken. Die Migranten kommen aus afrikanischen Staaten wie Sudan, Nigeria oder Gambia. Gestern sank erneut ein Schlauchboot mit mehr als 100 Menschen, nur 17 überlebten, andere konnten aus ihren Booten gerettet werden. Viele tragen jetzt Pullover und lila Badelatschen, die Helfer verteilt haben.

Auch Polizisten aus Deutschland helfen

Die Migranten am Pier reihen sich in eine Schlange ein, durchlaufen Stationen wie Autos in einer Waschanlage. Unter großen Zelten fotografieren italienische Beamte die Gesichter der Männer, Frauen und Kinder, scannen ihre Fingerabdrücke, jeder bekommt eine Nummer. Das Rote Kreuz checkt ihre Gesundheit. Frontex-Leute in blauen Westen helfen; auch Polizisten aus Deutschland, Österreich und England sind als EU-Beamte hierher entsandt. Sie befragen die Migranten nach ihren Fluchtrouten und ihren Kontakten zu Schleusern.

„Heute sind leider nur wenige kooperativ“, sagt eine Frontex-Mitarbeiterin. Eigentlich nur die Sudanesen. Einer habe die Nummer seines Schleusers verraten. „Er sitzt offenbar in Italien.“ Es dauert Stunden, bis alle Flüchtlinge in Bussen sitzen, fertig zur Abfahrt in Richtung Erstaufnahmelager, für das sich die EU den Namen „Hotspot“ ausgedacht hat.

Blick ging eher nach Griechenland

Wenig funktioniert bei der Lösung der Fluchtkrise in Europa. Es herrscht Willkür an den Außengrenzen, viele Menschen sterben, es regiert mehr Zwist als gemeinschaftliche Asylpolitik. An diesem Morgen auf Sizilien tröpfelt Nieselregen auf einen geordneten Abtransport der 452 Geretteten – 287 Männer, 23 Frauen, 142 Minderjährige, von denen 127 allein geflohen sind.

Fast alle Blicke gingen in den vergangenen Monaten nach Griechenland. Das Chaos sammelte sich auf Inseln wie Lesbos oder Kos. Mehr als 800.000 Menschen legten 2015 in Gummibooten an. Das Land erhielt 350 Millionen Euro Soforthilfe von der EU. Erst ein Deal mit dem türkischen Despoten Erdogan drückte die Zahl der neuen Flüchtlinge nach unten. 3000 waren es noch im Oktober 2016 in Griechenland.

Im Maschinenraum sind die Preise am günstigsten

Italien erhielt 24 Millionen Euro an schneller Hilfe. Doch das Land rechnet damit, dass wie in Griechenland jedes Jahr Zehntausende Geflüchtete bleiben werden – legal oder ohne Papiere.

Die Flüchtlinge Rahwa, Weini, Selam und Shushan (v.l.) aus Eritrea.
Die Flüchtlinge Rahwa, Weini, Selam und Shushan (v.l.) aus Eritrea. © Christian Unger | Christian Unger

Rahwa aber will lieber nach Deutschland. „Germany good“, sagt sie. Gerade schlendert das 17 Jahre alte Mädchen aus Eritrea mit ihren drei Freundinnen die Promenade von Pozzallo lang, ein Hafenstädtchen im Süden Siziliens – vor ihnen liegt das Meer, auf dem sie vor drei Wochen in einem Holzkutter mit 800 anderen Migranten aus Libyen abgelegt haben.

Drei Etagen habe das Boot gehabt, ganz unten, im Maschinenraum, seien die Preise der Schleuser am günstigsten. Rahwa schaukelt mit ihrem schmalen Körper die Wellen nach. Vier Stunden fuhren sie auf dem Wasser, dann habe sie die italienische Küstenwache aufgegabelt und nach Sizilien gebracht.

Anerkennungsquote bei Afrikanern meist gering

An Land beginnen Theorie und Praxis der EU-Asylpolitik. Die Theorie: Alle Flüchtlinge werden registriert, ihre Namen erfasst, Fingerabdrücke in nationale und EU-Datenbanken eingespeist. Letztere sind das wichtigste Merkmal, denn kaum einer der Flüchtlinge aus Afrika hat seinen Ausweis noch. Laut EU speichert Italien bereits die Daten von 90 Prozent aller neuen Migranten, nur eine Minderheit rutscht noch unbemerkt durch. Zumindest bei der ersten Registrierung.

Alle Geflüchteten kommen in einen „Hotspot“, wo entschieden wird, wer gute Chancen auf Asyl hat und wer nicht. Dann gibt es mehrere Wege: Asylantrag in der EU – doch bei den meisten Afrikanern sind die Anerkennungsquoten gering. Laut Hilfsorganisationen wie „Oxfam“ werden erwachsene Migranten aus Marokko oder Algerien unmittelbar abgewiesen. Andere legen Widerspruch ein.

Mehr als eine Million dieser Widerspruchsverfahren

Reporter Christian Unger auf Sizilien.
Reporter Christian Unger auf Sizilien. © privat | Privat

Jeder hat das Recht auf ein solches Verfahren, in dem der Fluchtgrund noch einmal geprüft wird. Bloß dauert das Monate, manchmal ein Jahr, bis ein Fall entschieden ist. Solange leben die Menschen in den Auffanglagern. Im September lagen vor Verwaltungsgerichten in den EU-Staaten mehr als eine Million dieser Widerspruchsverfahren gegen abgelehnte Asylanträge.

Die Migranten können zudem einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen, oder sich für das Umverteilungsprogramm der EU melden. Nur: Teilnehmen dürfen ausschließlich Menschen, die aus Ländern kommen, bei denen die Anerkennungsquote für Asyl bei mehr als 75 Prozent liegt.

Erst 7007 Menschen sind auf die EU-Staaten verteilt

Sudanesen fallen trotz Diktator al-Baschir raus, auch Afghanen trotz Taliban-Terror, Ghanaer, Nigerianer oder Marokkaner sowieso. Und sogar Iraker in manchen Monaten, je nach aktueller Lage in dem Land. Syrer dagegen zählen dazu, auch Eritreer und derzeit auch Menschen aus Bahrain, Burundi, Jemen und Mozambique – Krisenstaaten nach EU-Definition.

In der Theorie will die EU mit diesem Programm 160.000 Kriegsflüchtlinge aus Italien und Griechenland in andere EU-Länder umsiedeln. Nur: Außer Finnland, Frankreich und die Niederlande sind die Aufnahmequoten nicht annähernd erfüllt – auch von Deutschland nicht. Mickrige 7007 Menschen sind verteilt – EU-weit. Die Massen stauen sich in Lagern wie in Sizilien.

Es gibt auch Gewalt gegen Flüchtlinge

In der Praxis bedeutet das für die 17 Jahre alte Rahwa aus Eritrea, dass sie schon seit drei Wochen im „Hotspot“ von Pazzallo lebt, denn die Einrichtungen für geflüchtete Kinder in Italien sind überfüllt. Sie schläft in einer umgebauten Lagerhalle mit anderen Kindern, Männern und Frauen. Sie bekommt Essen und Trinken und jeden Tag einen Supermarkt-Gutschein über 2,50 Euro.

Nur die Kinder dürfen den „Hotspot“ verlassen. Alle anderen sollen nach spätestens 72 Stunden weitertransportiert werden, und werden solange von Soldaten bewacht, umzäunt von Metall. Die Hilfsorganisation Amnesty International interviewte 170 Migranten in italienischen Lagern und beklagte in Einzelfällen Gewalt gegen Flüchtlinge.

Tausende tauchen ab

In der Praxis trifft man auch Menschen wie Mohammed, der abends an einer Straßenecke von Catania einen kleinen Holztisch aufgebaut hat und Schuhe verkauft. Der Mann aus Senegal lebt seit drei Jahren ohne Papiere auf Sizilien. Er teilt sich mit fünf anderen Landsleuten eine Zweizimmerwohnung, für 90 Euro Miete pro Monat und Person. Wenn er 100 Euro von seinem Lohn übrig hat, schickt er das Geld an seine Mutter in Afrika.

Und in der Praxis tauchen Tausende ganz ab, weil sie weder vor noch zurück können oder wollen. Weil sie keine Hoffnung haben, als Schutzsuchender anerkannt zu werden – sondern als „Wirtschaftsflüchtling“ abgewiesen werden. Oder weil sie nicht Monate warten wollen, bis sie über ein EU-Verfahren mit ihren Familien in Deutschland oder Schweden vereint werden und lieber auf eigene Faust losziehen.

Europa hat keine Lösung

Helferin Giovanna di Benedetto von „Safe The Children“.
Helferin Giovanna di Benedetto von „Safe The Children“. © Christian Unger | Christian Unger

„Vor allem Jugendliche stehen vor dem Risiko, dass sie auf ihrer Flucht an kriminelle Banden geraten“, erzählt Giovanna di Benedetto, eine Helferin der Organisation „Save The Children“. Ein Bericht nennt sie die „kleinen unsichtbaren Sklaven“, Opfer von Menschenhändlern, Zuhältern oder Bettlergruppen etwa in Rom. „Wir brauchen gerade für die Kinder legale Wege nach Europa“, sagt di Benedetto.

Auf Sizilien zeigt sich, wie Europa eine Krise verwaltet. Besser als noch vor einem Jahr – doch noch immer ohne eine Lösung. Abkommen mit afrikanischen Staaten wie Tunesien nach dem Vorbild Türkei sollen helfen: Geld aus der EU für menschenwürdige Versorgung der Migranten. Auch EU-„Hotspots“ in Afrika stehen zur Debatte, in denen Migranten von dort aus Asyl für Europa beantragen.

Action-Bilder unterlegt mit Hollywood-Musik

Manche Politiker werfen noch eine brisante Frage auf: Wirken die aufwendigen Rettungsmissionen wie eine Einladung für Schlepperbanden, noch mehr und immer brüchigere Boote mit Migranten aufs Meer zu schicken? Elf Schiffe haben allein die Hilfsorganisationen vor die libysche Küste entsandt, dazu kommen Flotten der EU-Frontex-Mission und der italienischen Polizei. Die meisten Boote mit Geflüchteten treiben nur vier oder fünf Stunden auf dem Meer, kurz hinter dem Ende der libyschen Hoheitsgewässer retten europäische Schiffe die Menschen und bringen sie nach Italien.

Der Kommandeur Fabrizio Colombo von der italienischen Küstenwache zeigt Videos von den Bergungen, Action-Bilder unterlegt mit Hollywood-Musik. Menschen klammern sich an Rettungsringe oder Taue, andere schwimmen neben sinkenden Schlauchbooten. Tote Körper treiben auf Pressholz-Planken. Colombo ist davon überzeugt, dass die Operationen wichtig sind. „Und schon vor den ersten italienischen Rettungsmissionen schickten Schleuser Schlauchboote auf See“, erzählt er. Es sei außerdem die Pflicht eines jeden Seefahrers, Menschen in Not zu retten. Dann überlegt er noch einen Moment und sagt: „Was wäre denn auch die Alternative?“