Istanbul. In der Türkei ist die Pressefreiheit in Gefahr. Die Kollegen der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“ schreiben, warum.

Mehrere Redakteure, der Chefredakteur, der Herausgeber und Mitarbeiter des Verlags „Cumhuriyet“ sind bereits verhaftet worden. Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der Zeitung, lebt im Exil in Deutschland. Aus Solidarität mit den türkischen Kollegen drucken wir und mehr als 30 andere deutsche Zeitungen und zahlreiche Onlinemedien diesen Text, in dem die Redaktion der „Cumhuriyet“ die Ereignisse der vergangenen Wochen beschreibt.

Aus dem Strauß in seinen Händen zieht er rote Nelken heraus und legt sie auf die Schreibtische der Nachrichtenredaktion; auf jeden Tisch eine. Wir fragen ihn, warum er das macht. „Ich bin ein alter Mitarbeiter der ,Cumhuriyet‘, für eure Moral habe ich Blumen mitgebracht“, sagt er. Dann verschwindet er wieder.

In der Zentrale der Tageszeitung „Cumhuriyet“ im Istanbuler Stadtteil Şisli geht es zu wie im Bienenstock. Es ist der 2. November 2016, der dritte Tag, nachdem 13 Journalisten und Manager von uns festgenommen wurden. Wir Mitarbeiter versuchen, ruhig und gelassen zu bleiben. Es gilt, eine Zeitung herauszubringen – egal, wie viele Kollegen inhaftiert sind. Wir haben keine Alternative, als unserem Beruf nachzugehen. Denn die „Cumhuriyet“ ist eine Zeitung, und hier arbeiten Journalisten.

Aber wir sind traurig und besorgt und rufen uns ins Gedächtnis, wie wir an jenem Tag getitelt haben: „Wir ergeben uns nicht.“ Von unseren festgenommenen Kollegen haben wir wegen des Ausnahmezustands, der nach dem Putschversuch vom 15. Juli ausgerufen wurde, nichts mehr gehört. Der Staatsanwalt hat eine Frist von fünf Tagen gesetzt, bevor sie einen Anwalt sprechen können. Jeder fragt sich: Was soll jetzt passieren? Vielleicht sollten wir uns daran erinnern, was bereits passiert ist und warum es passiert ist.

Was ist passiert?

Alles begann am Morgen des 31. Oktober 2016 mit dem Anruf unseres Chefredakteurs Murat Sabuncu. Morgens um sieben Uhr meldete er sich bei unserem Chef vom Dienst und sagte: „Mein Freund, sie nehmen mich mit.“ Dass Sabuncu um diese Zeit anrief, war nichts Außergewöhnliches. Und zuerst dachten alle, er würde einen Scherz machen. Doch egal, wie sehr wir versuchen, optimistisch zu bleiben: Die Wirklichkeit in der Türkei ist mittlerweile leider so tragisch, dass sie keine Scherze dieser Art erlaubt.

Die Polizei durchsuchte Murat Sabuncus Wohnung und nahm ihn fest. Seinem Anruf folgten weitere; unsere Telefone begannen, wie verrückt zu klingeln: Die „Cumhuriyet“-Journalisten Aydin Engin, Hikmet Cetinkaya und Hakan Kara, unser Ombudsmann Güray Öz, die Vorstandsmitglieder der „Cumhuriyet“-Stiftung Bülent Utku und Mustafa Kemal Güngör, unser ehemaliger Finanzverantwortlicher Bülent Yener und sein Nachfolger Günseli Özaltay, der Leiter unserer Buchbeilage Turhan Günay – sie alle wurden aus ihren Wohnungen geholt. Die Wohnung von Orhan Erinc, dem Vorsitzenden der „Cumhuriyet“-Stiftung, wurde durchsucht.

Politisches Klima ist rauer geworden

Wir Mitarbeiter versammelten uns sofort in unserem „Haus“. Schon in unseren ersten Gesprächen stellten wir fest, dass die Operation gegen die „Cumhuriyet“ niemanden überrascht hatte. Weil die Regierung jeden, der ihr widerspricht, zum Schweigen bringen will. Darunter auch unsere Zeitung, wie wir seit Längerem bezeugen können.

Doch den Gedanken, dass eine Zeitung wie die „Cumhuriyet“, bei deren Gründung vor 93 Jahren Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der Türkei, als Namensgeber Pate gestanden hatte; eine Zeitung, die in der Vergangenheit nach jedem Putsch verfolgt wurde, weil sie links ist; eine Zeitung, die für Demokratie, Laizismus, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Meinungsfreiheit stand und den internationalen journalistischen Normen entsprechend Berichterstattung leistet – dass eine solche Zeitung derart unter Druck geraten würde, wollten wir nie aussprechen. Aber das politische Klima ist im Regime des Ausnahmezustands rauer geworden.

Stimme gegen Ungerechtigkeit erhoben

Jemandem im Ausland zu erklären, was am 15. Juli in der Türkei passiert ist, ist nicht einfach. Kurz gesagt: Unserer Ansicht nach wollte die sich seit 2013 mit der AK-Partei im Machtkampf befindende religiöse Organisation, die Fethullah-Gülen-Gemeinde, die Regierung mit einem Putsch stürzen. Dagegen stand das ganze Land auf und schützte seine gewählten Repräsentanten. Menschen aus alle Schichten demonstrierten auf der Straße für die Demokratie. So wurde der Putsch zerschlagen. Bald darauf wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Im Kampf gegen die Gülen-Organisation ergingen gegen Tausende Menschen Haftbefehle und noch immer werden neue erlassen.

Die „Cumhuriyet“ hatte ihre Stimme gegen Ungerechtigkeit erhoben und sich bemüht, im Rahmen universeller Nomen Journalismus zu betreiben. Nun wurden Vorstandsmitglieder der Stiftung und Journalisten der Zeitung beschuldigt, sie hätten im Auftrag der Gülen-Organisation und der PKK gehandelt. Zuletzt wurde am vergangenen Freitag unser Herausgeber Akin Atalay bei seiner Rückkehr aus Deutschland festgenommen.

„Eine gute Zeitung machen“

Trotz allem haben wir nicht aufgehört, guten Journalismus zu machen und eine gute Zeitung herauszubringen. So wie am ersten Tag, nach den Festnahmen unserer Manager und Journalisten. „Wir müssen eine gute Zeitung machen“, haben wir uns auf der ersten Redaktionskonferenz danach gesagt. Inmitten dieser Konferenz klingelte das Telefon unseres Autors und Beraters Kadri Gürsel. Auch seine Wohnung wurde durchsucht. Er verließ die Konferenz und wurde später festgenommen. Auch dadurch ließen wir uns nicht von der Arbeit abbringen. Und niemand konnte unseren Karikaturisten Musa Kart sowie unser Vorstandsmitglied Önder Celik davon abhalten, selbst zur Polizeiwache zu gehen, nachdem sie von den Haftbefehlen gegen sich erfahren hatten.

Auch bei ihnen lautete der Vorwurf, im Namen der Gülen-Organisation und der PKK Straftaten begangen zu haben. In Wirklichkeit ist die „Cumhuriyet“ eine der wenigen Zeitungen, die stets auf die Gefahr hingewiesen haben, dass die Gülen-Organisation Polizei und Justiz mit dem Ziel unterwandert, die Kontrolle über die Republik an sich zu reißen und die Türkei in einen islamischen Staat zu verwandeln. Zudem ist die „Cumhuriyet“ eine der wenigen Zeitungen, die die Rechte der Kurden verteidigt, zugleich die PKK ständig kritisiert und jede Art von Terror ablehnt. Doch nun wird diese ganze Vergangenheit für nichtig erklärt und alle Schuld auf der „Cumhuriyet“ abgeladen.

Justizminister sprach von „Missgeschick“

Wegen des Ausnahmezustands haben wir von unseren 13 Freunden vier Tage lang nichts gehört, aller juristischen Bemühungen zum Trotz. Doch die Wahrheit hat eine Angewohnheit: Sie kommt ans Licht. So war es abermals ein Journalist, der aufdeckte, dass der Staatsanwalt, der die Ermittlungen gegen die „Cumhuriyet“ geführt hatte, selber in einem Gülen-Prozess angeklagt ist. Ein Bespiel, wie lebensnotwendig die Arbeit von Journalisten ist.

Die Tatsache, dass ein wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Organisation angeklagter Staatsanwalt die Ermittlungen geführt hatte, hätte das Verfahren gegen die „Cumhuriyet“ zusammenbrechen lassen müssen – jedenfalls wäre das so, wenn wir in einem anderen Land leben würden. So aber sprach der Justizminister bloß von einem „Missgeschick.“ Das Ministerium war nicht auf die Idee gekommen, den Staatsanwalt von seinen Aufgaben zu entbinden.

Der Vorwurf: Journalist zu sein

Von unseren 13 Freunden, die am 5. November vor Gericht gebracht wurden, kamen vier unter Auflagen frei. Dass sie gleich nach ihrer Freilassung nachts um 4 Uhr in die Zeitung kamen und dort von ihren wartenden Kollegen empfangen wurden, zeigt, wie sehr wir unserem Beruf verbunden sind.

Aber in der Türkei bleibt keine Freude ohne Strafe. Denn unsere übrigen festgenommenen Freunde wurden von Freitagnacht bis Samstagmorgen von einem Richter befragt. Sie wurden verhaftet und ins Gefängnis gebracht. So erhöhte sich die Zahl der in der Türkei inhaftierten Journalisten auf 142.

Von den freigelassenen Journalisten haben wir erfahren, was der Staatsanwalt wissen wollte: „Warum habt ihr so eine Nachricht veröffentlicht?“ „Warum habt ihr so getitelt?“ „Warum habt ihr das hervorgehoben?“ Der Staatsanwalt beschuldigte uns also, als Journalisten gearbeitet zu haben. Die Worte des Politikwissenschaftlers John Keane fassen unsere Lage zusammen: „Manche wollen nicht, dass manche Dinge irgendwo veröffentlicht werden. Diese Dinge nennt man Nachrichten.“

„Besucher schultern unsere Trauer“

Am zehnten Tag konnten unsere Anwälte unsere inhaftierten Freunde besuchen. So erfuhren wir, wie deren größte Sorge lautete: Wie es uns und der Zeitung ergangen war. Und wir hatten wirklich bemerkenswerte Tage erlebt. Kaum, dass die Nachricht über die Operation gegen uns bekannt geworden war, strömten Menschen zu unserer Zentrale in Istanbul und unserem Büro in Ankara: Politiker, Akademiker, Gewerkschafter, zivilgesellschaftliche Verbände, Studenten, Journalisten, Künstler, Berufskammern, Medien aus aller Welt, internationale Journalistenverbände, und – was am wichtigsten ist – unsere Leser. Diese Besuche gehen weiter. Die Besucher schultern unsere Trauer und hinterlassen uns ihre Hoffnung. Manche bringen uns Kaffee, Kekse, Sandwiches, Kuchen, Schokolade, Früchte, Blumen, Vitamine, damit wir standhaft bleiben und nicht stürzen. Unsere Unterstützer wollen unsere Mägen füllen, sie wissen nicht, dass ihr Kommen, ihre Unterstützung unsere Herzen, Seelen und unser Widerstandsgefühl nährt.

Die Studenten, die abends in unserem Zeitungsgebäude arbeiten und morgens zu ihren Prüfungen gehen, sind die Garantie, dass das Leben weitergeht. Der etwa 50 Jahre alte blinde Herr Hüseyin, der tagelang keinen Schritt aus der „Cumhuriyet“ rausgetan hat, ist die Garantie, dass unser Vertrauen in den Journalismus nicht erschüttert und unser Widerstand erfolgreich sein wird. Die Nachricht unserer Freunde aus dem Gefängnis – „Uns geht es gut, lasst es euch auch gut gehen“ – ist die Garantie, dass wir in unserem Beruf, im Journalismus, gewinnen werden. Die Kollegen, die sich schon am ersten Tag versammelt haben, ihre „Journalisten-Mahnwache“ für die „Cumhuriyet“, sind die Garantie für Meinungsfreiheit.

Was uns fehlt

Nur eine Garantie fehlt uns: die Pressefreiheit. Wir Bürger dieses Landes brauchen die Meinungs- und Pressefreiheit, die für jedes demokratische Land unverzichtbar ist. Um in Ruhe unserer Arbeit nachgehen zu können, müssen wir einfach nur Journalisten bleiben. Wir müssen für jene eine Stimme sein, die keine haben, wir müssen Tatsachen berichten und aufschreiben. Unsere Arbeit ist schwer, der Druck ist groß, die Bedrohungen ernst. Aber nichts davon wird uns abhalten. Die Nachricht unseres Chefredakteurs Murat Sabuncu, die er aus der Haft geschickt und damit unsere Augen mit Tränen gefüllt hat, ist der Grundsatz von jedem, der bei der „Cumhuriyet“ arbeitet: „Wir werden uns nur unserem Volk und unseren Lesern beugen.“

Übersetzung: Timur Tinç und Deniz Yücel