Berlin. Cem Özdemir spricht im Interview über Bündnisse nach der Wahl, den Auftritt des Daimler-Chefs beim Bundesparteitag – und seine Zukunft.

Misstöne prägen die Szene vor dem Grünen-Parteitag, der am Freitag in Münster beginnt. Parteichef Cem Özdemir, der Spitzenkandidat für die Bundestagswahl werden will, ärgert sich über den anhaltenden Streit um die Vermögensbesteuerung – und den Protest gegen den Auftritt von Daimler-Chef Dieter Zetsche.

Herr Özdemir, warum glauben Sie, dass es keinen besseren Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl gibt als Sie?

Cem Özdemir : Ich bin leidenschaftlicher Wahlkämpfer und die Themen passen: Ökologie, Gerechtigkeit, Bildung, Inte­gration, Europa – das kenne ich alles aus eigenem Erleben. Aber ganz gleich, wer gewählt wird: Wir müssen gemeinsam anpacken. Für einen erfolgreichen Wahlkampf brauchen wir alle.

Bleiben Sie Parteichef, wenn Sie die Urwahl verlieren?

Özdemir: Ich habe meiner Partei viel zu verdanken, da mache ich mich nicht vom Acker. Ich werde mich im Wahlkampf voll einbringen, so oder so.

Und im nächsten Jahr treten Sie wieder an?

Özdemir: Ich bin jetzt der am längsten amtierende Vorsitzende der Grünen. Da stellt sich natürlich die Frage, wann es Zeit wird für den Übergang.

Es kann also ihr letztes Jahr als Parteichef sein.

Özdemir: Das ist möglich. Ich habe nicht vor, den Job als Bundesvorsitzender der Grünen ein Leben lang zu machen. Das ist schon eine Aufgabe, für die man – auf gut Schwäbisch – eine Saukuddel braucht …

… was sich mit dickem Fell übersetzen lässt.

Özdemir: Das habe ich mir zugelegt, aber es kommt die Zeit, wo ein neuer Besen kehren muss.

Auf Ihr Betreiben haben die Grünen den Vorstandsvorsitzenden von Daimler, Dieter Zetsche, zum Parteitag eingeladen. Sind Sie der Auto-Grüne, wie Gerhard Schröder einst der Auto-Kanzler war?

Özdemir: Die Entscheidung, Herrn Zetsche einzuladen, haben wir im Bundesvorstand gemeinsam getroffen. In unserem Antrag bekennen wir uns zum Autoproduktionsstandort Deutschland, fordern aber gerade deshalb Veränderungen ein. Wir Grünen nehmen das Pariser Klimaabkommen ernst und wollen, dass ab dem Jahr 2030 nur noch Neufahrzeuge zugelassen werden, die keine Schadstoffe ausstoßen. Und da muss ich doch mit den Herstellern reden, die das massiv betrifft. Wir können nicht abwarten, bis uns Japan, China oder die USA mit ihren Elektroautos davonfahren.

Eine Gruppe von Grünen will verhindern, dass Zetsche auf dem Parteitag das Wort erteilt wird.

Özdemir: Darüber wird der Parteitag entscheiden. Wenn wir jetzt schon so zögern – wie stellen wir uns das denn später vor, wenn wir regieren? Da werden wir solche Gespräche am laufenden Band führen. Greenpeace müssen wir nicht mehr überzeugen. Aber mit Dieter Zetsche müssen wir reden über die Zukunft der Automobilindustrie. Daimler hat 170.000 Arbeitsplätze in Deutschland. Da hängen auch Familienschicksale dran.

Der Streit über eine Vermögensbesteuerung ist vor dem Parteitag in eine neue Runde gegangen. Wer gewinnt?

Özdemir: Die Partei insgesamt, hoffe ich. Wir müssen uns einigen. Wenn der Streit weitergeht, wird die Berichterstattung dominiert sein von dem Eindruck: Die Grünen diskutieren immer nur über Steuern. Und dafür wählt uns niemand.

Welche Folgen hätte eine Vermögensteuer?

Özdemir: Es braucht eine kluge Umverteilung ebenso wie mehr Chancengerechtigkeit. Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. Die entscheidende Herausforderung ist, die Vermögensbesteuerung so zu gestalten, dass wir nicht die mittelständischen Unternehmen treffen, die massiv in die ökologische Modernisierung investieren sollen. Ich denke, dessen sind sich bei uns alle bewusst.

Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, sieht niemanden, der das Amt des Bundeskanzlers besser ausfüllen könnte als Angela Merkel. Wen sehen Sie? Sigmar Gabriel?

Özdemir: Winfried Kretschmann hat das auf die Europapolitik bezogen, und da fällt mir auch kein Zacken aus der Krone, wenn ich sage: Frau Merkel hat dazugelernt. Aber sie hat ihr politisches Kapital in der Flüchtlingskrise ausgeschöpft. Jetzt hat sie offensichtlich nicht mehr die Kraft und den Mut, das zu sagen und zu machen, was notwendig wäre – allem voran Investitionen in unsere Infrastruktur in Europa.

Ist Gabriel denn mutig genug, für Europa einzutreten?

Özdemir: Auch da bin ich mir nicht so sicher. Deshalb kommt es auf die Grünen an. Wir sind die einzige Partei, die in schwieriger Lage zu Europa steht. Man kann Europa sicher besser machen, aber nicht, in dem man es abreißt.

Was bedeutet das für die Koalitionsfrage: Schwarz-Grün oder Rot-Rot-Grün?

Özdemir: Alles ist besser als die große Koalition. Die Grünen tun jeder Regierung gut, und den Grünen tut jede Regierung gut. Wer grün wählt, bekommt Klimaschutz, mit dem unsere Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben und Arbeitsplätze schaffen können – ganz gleich in welcher Konstellation. Und je stärker wir werden, desto mehr können wir von unserer Politik durchsetzen.

Klingt ziemlich beliebig. Wenigstens sind Ihre persönlichen Präferenzen für Schwarz-Grün bekannt ...

Özdemir: An mir würde auch Rot-Grün-Rot nicht scheitern. Wenn die Inhalte stimmen und sich die handelnden Personen in die Augen schauen können, ist auch ein Bündnis mit SPD und Linkspartei möglich. Deutschland braucht eine verlässliche Regierung.

Deutschland sucht auch den nächsten Bundespräsidenten. Stellen die Grünen einen eigenen Kandidaten auf?

Özdemir: Ich schließe nicht aus, dass die Grünen der Bundesversammlung einen eigenen Bewerber präsentieren. Das hängt davon ab, welche Vorschläge aus der Regierungskoalition kommen. Es müsste ein verbindender Kandidat sein, der in diese Zeit passt.

Die SPD schlägt Außenminister Steinmeier vor. Kann er die Unterstützung der Grünen finden?

Özdemir: Das ist nicht ausgeschlossen.