Washington. Der Präsidentschaftswahlkampf in den USA hat seine Spuren hinterlassen. Mit Folgen für beide Kandidaten: Sie sind schwer beschädigt.

Keine Beleidigung infam genug, um nicht gedruckt oder gesendet zu werden. Keine Verleumdung zu schäbig. Keine Lüge zu haarsträubend. Keine Schublade zu tief.

Wenn Amerika am Dienstag des Flächen-Bombardements mit politischen Kampfansagen überdrüssig und ermattet an die Wahl-Urnen strömt, um den 45. Präsidenten zu wählen, geht ein vor 20 Monaten begonnenes Spektakel zu Ende, dessen „Unwürdigkeit“ nach Ansicht von US-Medien „noch lange nachwirken wird“.

Beide Kandidaten sind schwer beschädigt

Hillary Clinton und Donald Trump, die Übriggebliebenen dieses beispiellosen brutalen Ausscheidungskampfes, schleppen sich schwer beschädigt in grimmiger Atmosphäre über die Ziellinie.

Hillary Clinton hat im Wahlkampf das Attribut „betrügerisch“ bekommen.
Hillary Clinton hat im Wahlkampf das Attribut „betrügerisch“ bekommen. © REUTERS | BRIAN SNYDER

Die Demokratin und der Republikaner sind beide historisch unbeliebt, Trump noch mehr als Clinton. Den rund 220 Millionen wahlberechtigten Amerikanern haben sie von den Vorwahlen über die Parteitage bis zu den drei großen Fernsehdebatten keine ernsthafte Sachdebatte über die Lösung der drängendsten Probleme in den Bereichen Staatsverschuldung, Bildungsmisere, Einkommensungleichheit, Arbeitsmarkt, Gesundheitsreform, Rassismus und Militäreinsätze angeboten.

Trump und seine noch nie dagewesene Häme

Vom politischen Seiteneinsteiger Trump gezwungen, ließ sich die frühere First Lady und Außenministerin in eine Schlammschlacht ziehen, in der er seit vergangenem Sommer nur noch um das ging, was die Amerikaner „character assassination“ nennen: die absichtsvolle Rufschädigung des Gegners, mehr noch: die gesellschaftliche Ächtung.

Dazu griff der selbstverliebte Geschäftsmann zu nie dagewesene Häme. Die daraus resultierenden Auswüchse machen Beobachter aus Europa sprachlos: Auf Trump-Veranstaltungen wurde regelmäßig gefordert, Clinton im Zusammenhang mit ihrer E-Mail-Affäre als Außenministerin einfach einzusperren. Am Freitag verstieg sich ein Anhänger in New Hampshire sogar dazu, die Hinrichtung der 69-Jährigen zu propagieren.

Polarisierung der Gesellschaft

„Crooked Hillary“ (die betrügerische Hillary) und „Dangerous Donald“ (der gefährliche Donald) haben sich, bereitwillig unterstützt von quotengierigen Fernseh-Sendern, über viele Wochen anhand von kompromittierenden Video-Mitschnitten, lange zurückliegenden Meinungsäußerungen und von der Enthüllungsplattform Wikileaks durchgestochenen E-Mails einen Überbietungswettbewerb geliefert.

„Das hat die ohnehin ausgeprägte Polarisierung der Gesellschaft bis ins Unerträgliche gesteigert“, schrieb die Washington Post.

Zivilisierter Austausch? Nicht mehr möglich

Donald Trump nennen sie in den USA den „gefährlichen“ Trump.
Donald Trump nennen sie in den USA den „gefährlichen“ Trump. © REUTERS | CARLO ALLEGRI

Die vergiftete Atmosphäre wirkt bis in den Alltag vieler Menschen hinein. Nachbarn des Autors dieses Textes, der eine Republikaner, der andere Demokrat, die 30 Jahre lang in Washington friedlich nebeneinander gelebt haben, begegnen sich heute offen feindselig, an guten Tagen ignorieren sie sich.

Ein zivilisierter Austausch, ein Pro und Contra, ist nicht mehr möglich. Der Trump-Anhänger argumentiert aus einem faktenfreien Parallel-Universum heraus, in dem allgemein anerkannte Tatsachen, Zahlen und Hintergründe als Beleg für die „Verlogenheit des Systems“ gelten.

„Unter unserer Würde“

Ganz gleich wie Wahl ausgeht: Der Schaden dieser abermaligen Absenkung von Standards im politischen Ideenstreit, die jeden Tag in den allermeisten Medien vorgeführte Abkehr von zivilem Verhalten, beschäftigt schon jetzt Psychologen und andere Experten.

Eine, die es wissen muss, Condoleezza Rice, unter George W. Bush Außenministerin, sagt es so: „Diese Wahl war unter unserer Würde. Wenn diese gespenstische Reality-Fernseh-Show vorbei ist, müssen wir unsere sehr, sehr anstrengen, um Amerika zu heilen.“

Trump hat fast jeden dämonisiert

Wie, das sagt die heute an der Elite-Universität Stanford lehrende Afro-Amerikanerin nicht. Zu groß scheint der Scherbenhaufen, den die Showbusiness-Ikone Trump mit seinem primitiven, vulgären Populismus hinterlässt. Seine seit Bekanntgabe der Kandidatur im Juni 2015 aggressiv verfolgte Strategie, die von Washington über Jahrzehnte links liegen gelassene weiße Unterschicht mit Dauerbeschallung (Clinton = Weltuntergang, Trump = Amerika wird wieder groß und mächtig) in einen wütenden Mob zu verwandeln, hat die Gräben noch vertieft.

Muslime, Latinos, Politiker, Behinderte, Frauen, Andersdenkende, moderate Republikaner, Angehörige des Militärs, die Eliten – Trump hat nahezu jeden dämonisiert, der ihm ins Visier geriet. Und Millionen jubeln ihm bis heute zu, loben seinen Hang zur politischen Unkorrektheit. Und sein Versprechen, den „Sumpf in Washington trocken zu legen.“

Trump holt auf

Seine eigene, hundertfach dokumentierte Fehlbarkeit, wie unter dem Brennglas in einem frauenfeindlichen Video zu besichtigen („Greif ihnen zwischen die Beine“), warf den Bau-Unternehmer aus New York vor einem Monat in der Gunst der Wähler soweit zurück, dass manche Clinton schon am Schreibtisch im Oval Office sitzen sahen.

Das unerwartete Eingreifen der Bundespolizei FBI gegen Clinton vor zehn Tagen, die Wiederbelebung der leidigen E-Mail-Affäre, und die Hiobsbotschaft über exorbitante Preissteigerungen bei Obamas Gesundheitsschutz („Obamacare“), haben die Euphorie gestoppt. Trump holt in den Umfragen auf. Bundesstaaten, auf die es traditionell ankommt, scheinen für den 70-Jährigen wieder gewinnbar.

Obama sorgt sich um sein Vermächtnis

Nicht mehr als eine höfliche Geste: Die beiden Kandidaten nach dem ersten TV-Duell Ende September.
Nicht mehr als eine höfliche Geste: Die beiden Kandidaten nach dem ersten TV-Duell Ende September. © REUTERS | MIKE SEGAR

Gegen Trumps Versprechen, das System nicht zu verbessern, sondern zu sprengen, kommt Clinton mit ihrer Botschaft von Zusammenhalt und Versöhnung immer schlechter an. Trotz massiver Hilfe der gesamten demokratischen Polit-Prominenz. Vor allem Barack Obama, 2008 intern noch Clintons Gegner, sorgt sich um sein Vermächtnis. Im Dauerwahlkampf für die Rivalin von einst ruft er seinen Landsleuten ins Gewissen: „Was auf dem Spiel steht, ist der Charakter unseres Landes.“

Trump hält dagegen mit einer Macht, die es so noch nie gab. Mit 13 Millionen Anhängern auf Twitter und der Gefolgschaft des rechtspopulistischen Internet-Portals Breitbart hat sich der Milliardär eine hermetisch verschlossene Echokammer geschaffen, in der andere Meinungen Landesverrat darstellen.

Was das für die morgige Wahlnacht bedeutet? „Wir fürchten, dass Trump eine eventuelle Niederlage nicht akzeptieren wird“, sagten gestern parteiunabhängige Experten. Ein nicht gewaltfreier Übertragung der Regierungsmacht in Amerika , das wäre der absolute Tiefpunkt in einem an Scheußlichkeiten kaum zu überbietenden Wahlkampf.