London. Der Londoner High Court lässt das Parlament beim EU-Ausstieg mitbestimmen. Ein langes Gesetzgebungsverfahren droht – das Brexit-Ende?

Premierministerin Theresa May muss erst das Parlament fragen, bevor sie den Brexit beginnen darf. Der High Court in London urteilte am Donnerstag, dass die Regierung nicht allein die Autorität hat, den Artikel 50 des Lissabonner Vertrages auszulösen, mit dem der britische Austritt aus der Europäischen Union offiziell angemeldet wird. Stattdessen braucht es eine Abstimmung in beiden Häusern des Parlaments sowie ein Gesetz, das der Premierministerin die Erlaubnis erteilt, die zweijährigen Brexit-Verhandlungen in Gang zu setzen.

Die Entscheidung des Hohen Gerichts kam einer Sensation gleich, gibt sie doch den Parlamentariern die Möglichkeit, ein Veto gegen den Brexit einzulegen. Ein Sprecher der Premierministerin erklärte, dass man vom Urteilsspruch enttäuscht sei: „Das Land stimmte dafür, die EU zu verlassen in einem Referendum, das von einem Gesetz des Parlaments bewilligt wurde. Und die Regierung ist entschlossen, das Resultat des Referendums zu respektieren.“

Entscheidung wohl noch vor Jahresende

Er erklärte, dass die Regierung Berufung vor dem Supreme Court einlegen wird, dem Obersten Gerichtshof des Königreichs. Eine Anhörung dort soll Anfang Dezember beginnen und eine endgültige Entscheidung wird noch vor Ende des Jahres erwartet.

Die Kläger – eine Investmentbankerin, ein Friseur und andere Brexit-Gegner – hatten sich vor allem auf verfassungsrechtliche Argumente gestützt. Vor dem High Court wurde eine zentrale Frage verhandelt: Kann die Exekutive in eigener Machtvollkommenheit Rechte annullieren, die das Parlament zuvor in einem Gesetz bewilligt hatte? Denn ein Brexit führt dazu, dass Briten Rechte verlieren, die sie als EU-Bürger zurzeit noch haben.

„Verfassungswidrige Machtergreifung“

Konkret ging es um das Gesetz aus dem Jahre 1972, das den britischen Beitritt zur damaligen EWG beschloss. Mit diesem Akt, so der Anwalt der Kläger, Lord Pannick, habe man den britischen Bürgern zentrale Freiheiten und Rechte verschafft wie zum Beispiel die Personenfreizügigkeit, das Wahlrecht zum europäischen Parlament oder die Möglichkeit, den EU-Gerichtshof anzurufen.

Es käme einer „verfassungswidrigen Machtergreifung“ gleich, wenn die Regierung ohne Billigung durch die Volksvertreter diese Rechte den Bürgern wegnehmen würde. Daher, so Lord Pannick, „wirft dieser Fall Fragen von fundamentaler konstitutioneller Bedeutung auf, was die Begrenzung der Macht der Exekutive angeht“.

Regierung beruft sich auf Königliches Prärogativ

Die Regierung stellte sich auf den Standpunkt, dass sie durchaus die Autorität für die Anrufung des Artikels 50, die offizielle Austrittserklärung, besäße. Denn in allen außenpolitischen Fragen gelte seit Jahrhunderten das sogenannte Königliche Prärogativ, das der Exekutive das Vorrecht einräumt, Verträge zu schließen oder zu kündigen.

Außerdem, so argumentierte der Generalstaatsanwalt Jeremy Wright, habe das Parlament mit überwältigender Mehrheit für das Gesetz über das EU-Referendum gestimmt. Bei den damaligen Debatten habe man zudem klargemacht, dass im Falle eines Brexit-Votums die Regierung den Artikel 50 aufgrund des Prärogativs auslösen würde.

Finanzmärkte reagieren mit Kurssprung

Lord Chief Justice of England and Wales, John Thomas, und seine zwei Richterkollegen waren da anderer Meinung. Man schloss sich vollinhaltlich der Argumentation der Kläger an. „Wenn die Austrittsankündigung erfolgt“, hieß es im Urteil, „ist es unvermeidlich, dass fundamentale Rechte verloren gehen.“ Daher „hat die Regierung nicht die Autorität unter dem Königlichen Prärogativ, den Artikel 50 anzurufen“.

Die Finanzmärkte reagierten umgehend mit einem Kursprung der Landeswährung. Das Pfund Sterling übernimmt zurzeit die Rolle der offiziellen Opposition zum Brexit. Jedes Anzeichen, dass der Brexit hart ausfallen wird, also auf einen Abschied vom Binnenmarkt hinausläuft, wird mit Kursstürzen bestraft. Jetzt jedoch reagierte man optimistisch. Denn wenn das Urteil bestehen bleibt, dürfte der Brexit wahrscheinlich verzögert, womöglich sogar verhindert, sicherlich jedoch aufgeweicht werden.

Mehrheit für Brexit-Votum nicht ausgeschlossen

Für Theresa May ist das Ganze ein Albtraumszenario. Wenn auch die nächste Instanz das Urteil stehen lässt, droht ihr ein monatelanges Gesetzgebungsverfahren im Parlament. Ihr Zeitplan, bis spätestens Ende März nächsten Jahres die Brexit-Verhandlungen beginnen zu wollen, wäre damit vom Tisch.

Abgeordnete könnten für Zusatzartikel mit schwierigen Bedingungen stimmen. Im Unterhaus hatten sich während des Referendumswahlkampfes 73 Prozent der Parlamentarier für einen Verbleib in der EU erklärt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich eine Mehrheit für ein Brexit-Veto findet, obgleich jetzt viele Volksvertreter im Unterhaus sagen, den Volkswillen respektieren zu wollen.

„House of Lords“ könnte Brexit zumindest verzögern

Aber im „House of Lords“ hat die Regierung keine Mehrheit, und dort gibt es eine große Anzahl von Mitgliedern, die sich nicht um eine Wiederwahl sorgen müssen und von einem Brexit nichts halten. Wenn die Lords gegen ein „Artikel-50-Gesetz“ stimmen, können sie den Brexit zwar nicht verhindern, aber deutlich verzögern.

Die Opposition reibt sich die Hände. Theresa Mays Plan, möglichst wenig über ihre Brexit-Strategie verraten zu wollen, geht nicht mehr auf: Das Parlament hat jetzt ein Mitspracherecht. „Dieses Urteil bedeutet“, sagte Labour-Chef Jeremy Corbyn, „dass die Regierung ihre Verhandlungsposition ohne Verzögerung im Unterhaus offenlegen muss. Es muss Transparenz und Verantwortung gegenüber dem Parlament geben, was die Bedingungen eines Brexits betrifft.“ Die vereinte Opposition von Labour, den Liberaldemokraten und der schottischen SNP wird dafür sorgen wollen, dass der scharfe Schnitt mit der EU und das Ende der Mitgliedschaft im Binnenmarkt vermieden wird.