Washington/Chicago. „Menschen ohne Hoffnung schießen sich gegenseitig nieder“: Chicago steht vor einem Rekord von Toten durch Schusswaffen. Und ist ratlos.

Sie wurden am gleichen Tag geboren. Sie starben am gleichen Tag. Das Zwillings-Paar Edwin und Edward Bryant, zwei talentierte afro-amerikanische Basketball-Teenager, vor drei Wochen erst 17 geworden, ausgelöscht durch einen Schützen in einem vorbeifahrenden Auto an der West Evergreen Avenue. Die beiden gehören zu den 18 Schusswaffen-Toten, die Chicago allein am letzten Oktoberwochenende zählte. Ein schauerlicher Rekord ist damit erreicht.

Die Stadt, die seit Al Capone eine feste Größe auf der Landkarte der Kriminalität ist, hat zum ersten Mal seit 13 Jahren die 600er-Marke gerissen. 614 Schusswaffen-Tote. Seit 1. Januar. Insgesamt über 3000 Verletzte. 45 Prozent mehr als 2015. Mehr als Los Angeles und New York zusammen. Trauriger Spitzenreiter amerikaweit. Die Heimatstadt des scheidenden Präsidenten Obama. Und das Jahr hat noch zwei Monate. Was ist da los?

Unbeteiligte oft Opfer der Bandenkriege

Über 600 verfeindete Straßengangs ziehen bei ihren Fehden regelmäßig unbeteiligte Kinder, Alte und Schwangere in Mitleidenschaft. So war es auch bei den Bryants. „Wenn nicht bald etwa passiert“, sagen Geistliche an der berüchtigten South Side, „werden wir am Jahresende 700 Tote zu beklagen haben.“ Was passieren soll und wie, niemand scheint es zu wissen.

Polizeichef Eddie Johnson leistete sich neulich eine Art Offenbarungseid. „Ich bin frustriert. Das ist kein Polizei-Thema. Das ist ein Gesellschafts-Thema. Menschen ohne Hoffnung schießen sich gegenseitig nieder.“ Auf Mord steht im Bundesstaat Illinois eine Mindeststrafe von 45 Jahren.

1000 neue Polizisten geplant

In Chicago tobt auf den Straßen ein mörderischer Bandenkrieg, oft werden auch Unbeteiligte Opfer.
In Chicago tobt auf den Straßen ein mörderischer Bandenkrieg, oft werden auch Unbeteiligte Opfer. © REUTERS | © Frank Polich / Reuters

Was Johnson besonders stört, geht an die Adresse der Justiz: „Viele Täter sind alte Bekannte, die schon mehrfach wegen Waffengewalt auffällig geworden sind.“ Sie länger hinter Gittern zu halten, ist seine Minimal-Forderung. Derzeit wird der Besitz einer illegalen Waffe im Schnitt mit sieben Jahren bestraft. Summiert sich das Vorstrafenregister, können es bis zu 30 werden. Aber die Gefängnisse sind bis zum Bersten voll. Also mehr Polizei auf die Straße? In New York kommen 600 Cops auf 100.000 Einwohner. In Chicago sind es 400.

Bürgermeister Rahm Emanuel hat gerade die Aufstockung um 1000 weiter Beamte angekündigt. Richtig überzeugt von der Maßnahme ist er nicht. Obamas früherer Stabschef laviert zwischen Polizeischelte (wenn Officer überhastet zur Waffe greifen und töten) und Kritik an den Medien (wenn Berichterstattung über polizeiliche Übergriffe zu defensivem Verhalten der Cops führt).

In Chicago mehr Tote als im Irak-Krieg

Dass Präsidentschaftskandidat Trump tönt, die tödliche „Horror-Show“ könne durch resoluteres Eingreifen der Sicherheitskräfte „binnen einer Woche“ stoppen zu können, quittiert der Demokrat mit Kopfschütteln. Die Fakten sprechen dagegen. Zwischen 2001 und heute kamen in der 2,7 Millionen Einwohner zählenden Metropole rund 7900 Menschen durch Waffengewalt um. Fast doppelt so viele Opfer wie das US-Militär im gesamten Irak-Krieg zu beklagen hatte.

Auch darum wird die drittgrößte Stadt des Landes „Chi-Raq“ genannt. Viele Einwohner in den Schatten-Quartieren haben resigniert: „Für Jugendliche ist es heutzutage wahrscheinlicher, einen tödlichen Querschläger abzubekommen, als die Schule zu beenden“, sagte eine Mutter der Zeitung Chicago Tribune.

In der Nachbarschaft laxe Waffengesetze

Einkaufsgutscheine für das Abgeben von Waffen, 100 Dollar bei einer scharfen. Solche Aktionen in Chicago sind wie der Kampf gegen Windmühlen.
Einkaufsgutscheine für das Abgeben von Waffen, 100 Dollar bei einer scharfen. Solche Aktionen in Chicago sind wie der Kampf gegen Windmühlen. © REUTERS | © Jim Young / Reuters

Neben dem bekannten Ursachen-Bündel – Gangs, vererbte Perspektivlosigkeit ganzer Stadtteile, Drogen – tritt die gesetzliche Insellage immer mehr in den Vordergrund. In Chicago herrschen mit die schärfsten Waffengesetze in ganz Amerika. Aber nur wenige Kilometer nebenan im Bundesstaat Indiana, in dem Trumps Vizepräsidentschaftskandidat Mike Pence Gouverneur war, ist der Erwerb einer Waffe ein Klacks.

Privatpersonen und Waffenmessen verhökern Pistolen und Gewehre ohne Hintergrund-Checks. Und ohne Papierkram. An den, der zahlt. Nach Untersuchungen der Polizei kommen 60 Prozent der konfiszierten Waffen in Chicago illegal in die Stadt, 20 Prozent allein aus Indiana.

Eine offene Flanke, die auch Präsident Obama beklagt, der in Chicago seine politische Karriere begann. Seine präsidiale Gedenk-Bibliothek nach Ausscheiden aus dem Amt soll für 500 Millionen Dollar in der Nähe von Jackson Park an der South Side entstehen. In Schussweite zu den Brennpunkten einer Stadt, in der Krieg herrscht.