Berlin. Friedrich Schmehling musste wegen seiner Homosexualität in Jugendarrest. Ein Betroffener von Paragraf 175 erzählt aus seinem Leben.

Wenn Friedrich Schmehling von seinen Jugendsünden erzählt, dann wird er nicht rot, sondern wartet eher darauf, dass sein Gegenüber errötet. Er grinst wie ein ungezogener Bengel, obwohl er weiß, dass seine Geschichten einmal strafrechtlich relevant waren.

„Es fing damit an“, sagt der 74 Jahre alte Mann, „dass ich eine Jahreskarte für das Schwimmbad in Baden-Baden geschenkt bekam.“ Er spitzt dabei die Lippen, um den Effekt dieses Satzes zu unterstreichen. Seine Eltern hatten damals keine Ahnung, wie sehr sich der 15 Jahre alte Fritz darüber freute. Mit dieser Karte konnte er täglich in das Bad, in dem sich oft die damals dort stationierten US-Soldaten erfrischten. Eines Tages schaute er dort einem von ihnen beim Duschen zu. „Ich war neugierig, er war groß und kräftig, und ich hab dann wohl mal angefasst“, sagt Fritz und grinst.

Verurteilte sollen 3000 Euro Entschädigung erhalten

Doch zu jener Zeit galt noch ein Gesetz, nach dem Männer für solches Verhalten zu Gefängnisstrafen verurteilt werden konnten. Das Delikt: „Gleichgeschlechtliche Unzucht“. Dieser Paragraf 175 blieb in der Bundesrepublik bis 1986 gültig, in der DDR noch ein Jahr länger und wurde erst im wiedervereinten Deutschland 1994 komplett gestrichen. Laut Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sollen nun die Betroffenen nicht nur rehabilitiert, sondern auch entschädigt werden.

Verurteilte sollen pauschal 3000 Euro erhalten sowie weitere 1500 Euro je angefangenem Jahr der Inhaftierung. Betroffen sind rund 5000 Menschen. Die Entschädigungssumme schätzt das Ministerium auf rund 30 Millionen Euro. Dem Gesetzentwurf muss die Koalition noch zustimmen.

Friedrich Schmehling gehört zu den Betroffenen, weil auch er einmal erwischt wurde. Seine Verhaftung und Verurteilung seien glücklicherweise kein Trauma gewesen. „Es war allen so peinlich“, erinnert er sich, „und ich wusste bis dahin ja noch nicht einmal, dass es eine Straftat ist.“

Ein anderer Mann musste für acht Jahre hinter Gitter

Es passierte ein paar Monate nach der Begegnung in der Dusche. Schmehling wurde mit einem Mann über 60 im Park erwischt. Der ältere Herr musste wegen dieser Tat für fast acht Jahre hinter Gitter. Schmehling hörte nie wieder von ihm. Vielleicht ist er im Gefängnis gestorben? Wohl wegen seines jungen Alters kam Fritz damals mit vier Tagen Jugendarrest davon. Bald darauf zog er nach West-Berlin, wo es auch zu Mauerzeiten schon etwas liberaler zuging als in Südwestdeutschland.

Insbesondere die Grünen in der Hauptstadt haben in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass die Zahl der Betroffenen jedes Jahr sinke. Sie drängten deshalb zur Eile mit der Rehabilitierung. Außerdem ist die Bemessung der finanziellen Nachteile einer Verurteilung ohnehin schwierig, weil viele Männer damals ihre Arbeit und ihr soziales Umfeld verloren. Gleichgeschlechtlicher Sex unter Frauen stand unterdessen nicht unter Strafe.

Fünf Jahre Zeit bleibt für den Antrag auf Entschädigung

Minister Maas hat in den Gesetzesvorschlag aufgenommen, dass nicht nur die Betroffenen selbst den Antrag auf Rehabilitierung stellen können, sondern auch Angehörige oder Freunde – wenn sie ein „berechtigtes Interesse an der Feststellung der Urteilsaufhebung“ haben. Fünf Jahre lang soll es zudem möglich sein, diesen Antrag zu stellen.

Friedrich Schmehling sagt, dass es wahrscheinlich noch viel mehr Betroffene gäbe, wenn sie sich trauen würden, über ihr Schicksal zu reden. „Mir ist es immer wieder passiert“, sagt er, „dass ich im Gespräch einen kennenlernte, der auch mal im Gefängnis saß.“ Doch nicht jeder habe Lust darauf, intime Details noch einmal aufzuarbeiten. Oder er habe Angst. „Es ist ja auch lange her.“

Hoffnung auf Rehabilitierung

Schmehling selbst sei weder in seiner Firma noch in der Nachbarschaft je ernsthaft diskriminiert worden. „Und wenn doch, hab ich denen meine Meinung gesagt.“ Er lebte 28 Jahre lang mit seinem Freund zusammen, monogam, wie er betont. „Wir sind jeden Abend Arm in Arm eingeschlafen.“ Seit 2009 waren sie verpartnert, allerdings starb sein Mann kurz darauf an Krebs.

Betroffene aus anderen Städten erzählen zurückhaltender von ihren Erfahrungen oder bitten inständig auch im Jahr 2016 darum, ihren wirklichen Namen nicht zu nennen. „Meine Töchter würden mir das nie verzeihen“, sagt einer, der erst nach 20 Jahren Ehe seine Frau für einen Mann verließ. Das war in den 60er-Jahren noch gesellschaftlich unverzeihlich.

Es gibt nicht, wofür er sich schämen muss

Er nennt sich Heinz Schmitz und erzählt, wie er sich jahrelang im Ruhrgebiet versteckt hat. Wie er mit Herrenbesuch im Gleichschritt die knarzenden Treppenstufen nach oben lief, damit die Nachbarn nichts mitbekommen. Andere erzählen, wie die öffentlichen Toiletten ihre einzigen Möglichkeiten waren, Gleichgesinnte kennenzulernen – und die Polizei ihnen dort Fallen stellte. Die Scham der Verurteilung haben einige bis heute nie überwunden. Daran wird auch diese Rehabilitierung nichts ändern.

Friedrich Schmehling ist letztlich auch deshalb wieder in dieser Sache unterwegs. Er wurde von einem Verein für ältere Schwule – „Gay und Grey“ – nach München eingeladen, um einen Vortrag zu halten. „Sie wollen auch wissen, was diese Rehabilitierung bringen soll.“ Für ihn bringt es zumindest die Gewissheit, dass es nichts gibt, wofür er sich schämen muss.

Als Witwer hat er inzwischen die Welt des Onlinedatings entdeckt und grinst wieder wie ein Teenager damals im Schwimmbad: „Es geht noch mit über 70, da muss man sich keine Sorgen machen.“