Erbil. Erfolg vor dem Sturm auf Mossul: Die Terrormiliz IS ist aus der Stadt Karakosch vertrieben. Doch die Bewohner trauen dem Frieden nicht.

Am späten Dienstagabend haben Samer Abosh und seine Frau Nahid Majid in der Kirche für die Gefallenen gebetet. Dann sind sie hinausgegangen, haben gejubelt und geweint. Die schwarzen Kämpfer, die Dämonen, haben Karakosch verlassen. Mehr als zwei Jahre hatte der sogenannte Islamische Staat (IS) die größte christliche Stadt im Irak besetzt. Jetzt ist Karakosch frei.

Karakosch liegt in der Nineveh-Ebene, knapp 30 Kilometer östlich von Mossul, der Millionenmetropole im Norden, die im Juni 2014 von den Dschihadisten eingenommen wurde. 45.000 Menschen lebten früher in Karakosch, fast alle waren Christen. Darunter befanden sich auch viele Menschen, die zuvor vor der Gewalt der IS-Terrormilizv aus Mossul, Bagdad oder Basra geflohen waren.

Nachbarin und ihre Kinder von Raketen zerfetzt

Samer Abosh, der Automechaniker, kann sich gut an den Tag erinnern, als seine Stadt in die Hände des IS fiel. Er sitzt auf seinem verschlissenen Sofa in dem kleinen Container in Erbil, der Hauptstadt der Kurden im Nordirak. Dort sind er und seine Familie nun in Sicherheit. Samer kramt sein Mobiltelefon heraus. Darin gespeichert hat er noch das Foto der Nachbarin und ihrer beiden kleinen Kinder, die beim Einkaufen von einer der Raketen zerfetzt wurden, die der IS am 3. und 4. August in die Stadt Karakosch schoss. „Wir haben uns erst in einer Kirche versteckt, dann sind wir abgehauen.“ Fast alle Einwohner flohen, nur mit ein paar Habseligkeiten.

Die Familie lebte Tage und Nächte auf der Straße, später in einem Park in Erbil. Dann verkaufte Samer sein Auto, seinen ganzen Stolz, weil der Enkel krank war und behandelt werden musste. Das Kind hat Probleme mit der Niere. Sechs Monate verbrachten sie in Jordanien, wo der Junge operiert wurde. Dann kehrten sie nach Erbil zurück. Dort lebt die Familie nun in einem Flüchtlingscamp, in dem Tausende andere Familien untergekommen sind. Fast alle stammen aus Karakosch.

Viele sind nach Deutschland geflüchtet

„Ich weine jeden Tag und will nach Hause, wir haben keine Kraft mehr“, seufzt Nahid. Samer ist arbeitslos. Drei ihrer zehn Kinder sind bereits in Deutschland. Aus Karakosch kamen kaum Nachrichten. Und wenn, dann nur schlechte. Wenige Christen waren in Karakosch geblieben. Es heißt, der IS habe manche von ihnen mit Autos zu Tode geschleift. Mindestens eine Kirche soll gesprengt worden sein.

Sie wollen so schnell wie möglich zurück. Andererseits haben sie Angst, dass der Horror wieder von vorn beginnt. „Wir fühlen uns erst sicher, wenn der IS aus Mossul und aus Syrien vertrieben wurde“, sagt Nahid. Und wenn nicht irakische Soldaten, sondern kurdische Peschmerga die Stadt beschützen, betont Samer. Wie unsicher die Lage ist, zeigten Medienberichte von Mittwochmittag. So meldete der arabische Fernsehsender al-Dschasira, dass es in Karakosch erneut zu Kämpfen gekommen sei. Das irakische Militär sei wegen Scharfschützen des IS zum Rückzug aus Karakosch gezwungen gewesen. Ein Armeeoffizier sagte hingegen, das Militär durchkämme die Region und hoffe, die Stadt im Laufe des Tages vollständig zu befreien.

Einwohner fürchten sich vor Terroristen

Angst haben Samer und Nahid auch vor der Rückeroberung Mossuls durch die irakische Armee und die Peschmerga. Noch mehr Flüchtlinge könnten in die kurdische Autonomieregion kommen, befürchten sie. Dort leben schon heute etwa zwei Millionen Flüchtlinge. „Der IS wird seine Kämpfer einschleusen“, glaubt Samer. „Die verkleiden sich als Frauen. Wie soll man sie erkennen, wenn sie Gewänder tragen und vollverschleiert sind?“ Er lacht bitter.

Angst vor der Offensive hat auch Mohanda, der seinen richtigen Namen nicht nennen will, weil seine Familie noch in Mossul lebt. Der 26-Jährige arbeitet in einer Bowling-Bahn in Erbil, er hatte Glück. Als der IS kam, war Mohanda gerade unterwegs. Seit mehr als zwei Jahren hat er seine drei Brüder und seine Schwester nicht mehr gesehen. Sie telefonieren hin und wieder, sprechen über Belangloses. „Man darf nicht über den IS reden, sie hören die Telefongespräche ab.“

Beim letzten Anruf vor einer Woche hat ihn der Bruder um Geld angefleht, die Lebensmittelpreise in Mossul sind in den vergangenen Monaten explodiert. Seitdem hat Mohanda nichts mehr von seiner Familie gehört, das Netz ist tot. Was er weiß, ist, dass die Einwohner Mossul in ihren Häusern ausharren. „Alle haben schreckliche Angst vor den Luftangriffen.“

Kinder sollen mit Sprengstoff die Armee aufhalten

Mohanda hat von anderen Flüchtlingen aus Mossul gehört, dass sich der IS auf die Bodenoffensive vorbereitet. Kinder und Jugendliche sollen mit Sprengstoffgürteln ausgerüstet worden sein, um sich der irakischen Armee entgegenzuwerfen.

An der Front, 13 Kilometer vor Mossul, berichten kurdische Soldaten, dass sich die führenden Kommandeure des IS bereits aus der Stadt abgesetzt haben. Dort, bei Schagoli, tauchen plötzlich schwarz angestrichene gepanzerte Geländewagen auf, auf denen neben der irakischen auch schiitische Fahnen aufgepflanzt sind. Die Männer auf den Fahrzeugen sind Kämpfer der Haschd al-Schabi, der schiitischen Miliz, die nicht minder radikal als der IS ist. In Mossul leben Sunniten. „Wenn Haschd al-Schabi in die Stadt kommt, wird es schlimm“, sagt Mohanda, „die Schiiten haben uns immer gedemütigt und unterdrückt.“