Berlin. Nach dem Suizid von Dschaber al-Bakr gesteht Sachsens Ministerpräsident Tillich Fehler ein. Merkel fordert eine lückenlose Aufklärung.

Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), hat der sächsischen Justiz nach dem Selbstmord des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr schwere Vorwürfe gemacht: „Die sächsische Justiz hat hier völlig versagt“, sagte Özoguz unserer Redaktion . Es erschrecke sie, dass die sächsische Politik die gemachten Fehler nicht klar benenne, sagte die Staatsministerin. „Es gab kein Wort dazu, an welchen Stellen es jetzt Überprüfungen der bisherigen Praxis geben soll“, kritisierte Özoguz. Leider komme dieses Verhalten in Sachsen häufiger vor.

Der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) hatte am Freitag erstmals ein Versagen der sächsischen Behörden eingeräumt. „Der Suizid hätte verhindert werden müssen, in jedem Fall,“ sagte Tillich in Berlin. Es hätten „andere Maßstäbe bei uns in der Justiz angelegt werden müssen“.

Tillich sieht kein Staatsversagen

Den Vorwurf des Staatsversagens wies er aber als zu weitgehend zurück. Am Donnerstag hatte sich Tillich gegen pauschale Kritik an der sächsischen Justiz ausgesprochen und Aufklärung versprochen. Von „Staatsversagen in Sachsen zu sprechen“ sei „eine sehr weitgehende Kritik“, sagte er: „Öffentliche Sicherheit und Ordnung funktionieren in Sachsen.“ Man könne aber immer noch besser werden und aus Fehlern lernen. Der Syrer hatte sich am Mittwochabend in Leipzig in seiner Gefängniszelle erhängt.

Vorfälle in Sachsen: Tillich räumt Fehler ein

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    „Es muss jetzt eine lückenlose Aufklärung geben“, forderte indes Aydan Özoguz. Sie habe den Eindruck, die sächsische Justiz sei nach dem Prinzip 08/15 verfahren. „Jetzt zu sagen, ‚dumm gelaufen‘, reicht nicht“, so Özoguz. Die Flüchtlingsbeauftragte forderte eine bundesweit verbindliche Regelung im Umgang mit Terrorverdächtigen: „Wir müssen auf Bundesebene jetzt darüber sprechen, wie mit Terrorverdächtigen umzugehen ist. Es muss klare Vorgaben zwischen Bund und Ländern geben, damit am Ende nicht einzelnen Bediensteten die Verantwortung zugeschoben wird.“ Es gebe offenbar Regionen in Deutschland, die den Herausforderungen solcher Terrorszenarien nicht gewachsen seien. „Das Land Sachsen ist hier deutlich an seine Grenzen gestoßen.“

    Besser auf Terrorverdächtige vorbereiten

    Tillich ging auch auf die vielfach erhobene Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung der Ereignisse um die Verhaftung und den Suizid des Syrers ein. Er sagte, er stehe der Einrichtung einer „unabhängigen Untersuchungskommission“ offen gegenüber. Unter anderem hatte Renate Künast, Vorsitzende des Bundestags-Rechtsausschusses, eine solche Kommission gefordert.

    Tillich kündigte an, die sächsischen Behörden müssten sich künftig besser auf den Umgang mit Häftlingen mit einem solchen Täterprofil vorbereiten. Zudem müsse anhand der Ermittlungsergebnisse geprüft werden, ob Gesetze und Vorschriften angepasst werden müssten. Diese Fragen wolle er von seinem Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) beantwortet haben, sagte Tillich, und begegnete damit auch Forderungen nach einem Rücktritt des Ministers.

    Merkel fordert Aufklärung von Selbstmord

    Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte am Freitag die vollständige Aufklärung des Falls. In der Justizvollzugsanstalt sei offensichtlich „etwas schiefgelaufen“, und es habe Fehleinschätzungen gegeben, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. „Wichtig ist, dass gründlich untersucht wird, was ist falsch gelaufen, was ist falsch eingeschätzt worden.“ Entsprechenden Forderungen des Bundesinnenministers schließe sich auch die Bundeskanzlerin an.

    Terrorverdächtiger al-Bakr ist tot

    Dschaber al-Bakr ist tot. Der unter Terrorverdacht stehende Syrer nahm sich am Mittwochabend in seiner Gefängniszelle in der JVA Leipzig das Leben. Der 22-Jährige erhängte sich mit seinem Hemd.
    Dschaber al-Bakr ist tot. Der unter Terrorverdacht stehende Syrer nahm sich am Mittwochabend in seiner Gefängniszelle in der JVA Leipzig das Leben. Der 22-Jährige erhängte sich mit seinem Hemd. © dpa | Jan Woitas
    Al-Bakrs Anwalt Alexander Hübner sagte, er habe auf das Suizid-Risiko des Verdächtigen hingewiesen. Der JVA-Leiter habe auch versichert, dass al-Bakr ständig beobachtet werde, so Hübner.
    Al-Bakrs Anwalt Alexander Hübner sagte, er habe auf das Suizid-Risiko des Verdächtigen hingewiesen. Der JVA-Leiter habe auch versichert, dass al-Bakr ständig beobachtet werde, so Hübner. © dpa | Jan Woitas
    Rolf Jacob, Leiter der Justizvollzugsanstalt Leipzig, bestätigte bei einer Pressekonferenz am Donnerstag in Dresden, dass al-Bakr von der Haftrichterin vor seiner Überstellung in die Untersuchungshaft als suizidgefährdet eingestuft worden war.
    Rolf Jacob, Leiter der Justizvollzugsanstalt Leipzig, bestätigte bei einer Pressekonferenz am Donnerstag in Dresden, dass al-Bakr von der Haftrichterin vor seiner Überstellung in die Untersuchungshaft als suizidgefährdet eingestuft worden war. © dpa | Arno Burgi
    Dabei habe sich die Amtsrichterin in Dresden auch auf einen vom Beschuldigten bereits bei der Verkündung des Haftbefehls angekündigten Hungerstreik berufen. In der JVA sei nach einem Gespräch mit einer Psychologin die Gefahr aber als nicht akut eingestuft worden, sagte Jacob.
    Dabei habe sich die Amtsrichterin in Dresden auch auf einen vom Beschuldigten bereits bei der Verkündung des Haftbefehls angekündigten Hungerstreik berufen. In der JVA sei nach einem Gespräch mit einer Psychologin die Gefahr aber als nicht akut eingestuft worden, sagte Jacob. © dpa | Arno Burgi
    Dennoch sei der 22-Jährige zunächst alle 15 Minuten in seiner Zelle kontrolliert worden, sagte Jacob. Der Rhythmus sei dann später auf 30 Minuten erhöht und beibehalten worden.
    Dennoch sei der 22-Jährige zunächst alle 15 Minuten in seiner Zelle kontrolliert worden, sagte Jacob. Der Rhythmus sei dann später auf 30 Minuten erhöht und beibehalten worden. © dpa | Sebastian Willnow
    Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (r.) erklärte, er übernehme qua seines Amtes die politische Verantwortung. Für einen Rücktritt gebe es aber keine Veranlassung.
    Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (r.) erklärte, er übernehme qua seines Amtes die politische Verantwortung. Für einen Rücktritt gebe es aber keine Veranlassung. © dpa | Arno Burgi
    Am Montag war der mutmaßliche Terrorist in Leipzig festgenommen worden. Offenbar ist so ein größerer Anschlag der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Deutschland verhindert worden.
    Am Montag war der mutmaßliche Terrorist in Leipzig festgenommen worden. Offenbar ist so ein größerer Anschlag der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Deutschland verhindert worden. © Getty Images | Carsten Koall
    Der Syrer hatte nach Angaben von Sachsens Innenminister Markus Ulbig konkrete Pläne verfolgt und Vorbereitungen für einen Sprengstoffanschlag getroffen. Nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz wollte er einen Flughafen in Berlin attackieren.
    Der Syrer hatte nach Angaben von Sachsens Innenminister Markus Ulbig konkrete Pläne verfolgt und Vorbereitungen für einen Sprengstoffanschlag getroffen. Nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz wollte er einen Flughafen in Berlin attackieren. © Polizei Sachsen/dpa | Christian Zander
    Zwei Syrer hatten ihn nach eigenen Angaben in einer Wohnung im Nordosten von Leipzig überwältigt, gefesselt und der Polizei übergeben.
    Zwei Syrer hatten ihn nach eigenen Angaben in einer Wohnung im Nordosten von Leipzig überwältigt, gefesselt und der Polizei übergeben. © Getty Images | Carsten Koall
    Ihr Anruf bei der Polizei war zunächst aufgrund von Verständigungsproblemen erfolglos geblieben. Daraufhin waren sie mit einem Foto von al-Bakr zu einem Polizeirevier gefahren.
    Ihr Anruf bei der Polizei war zunächst aufgrund von Verständigungsproblemen erfolglos geblieben. Daraufhin waren sie mit einem Foto von al-Bakr zu einem Polizeirevier gefahren. © dpa | Hendrik Schmidt
    Am Samstag hatte es einen Anti-Terror-Einsatz in Chemnitz gegeben, bei dem die Polizei in einer Wohnung mehrere hundert Gramm hochexplosiven Sprengstoff gefunden hatte. Die unverdächtigen Bewohner des Hauses in der Siedlung „Fritz Heckert“ waren aus ihren Wohnungen geleitet worden.
    Am Samstag hatte es einen Anti-Terror-Einsatz in Chemnitz gegeben, bei dem die Polizei in einer Wohnung mehrere hundert Gramm hochexplosiven Sprengstoff gefunden hatte. Die unverdächtigen Bewohner des Hauses in der Siedlung „Fritz Heckert“ waren aus ihren Wohnungen geleitet worden. © dpa | Hendrik Schmidt
    Dschaber al-Bakr war bei dem Einsatz der Polizei nach Angaben eines Sprechers nur knapp entkommen. Eine LKA-Sprecherin hatte bestätigt, dass ein Warnschuss abgegeben worden war.
    Dschaber al-Bakr war bei dem Einsatz der Polizei nach Angaben eines Sprechers nur knapp entkommen. Eine LKA-Sprecherin hatte bestätigt, dass ein Warnschuss abgegeben worden war. © dpa | Hendrik Schmidt
    Einsatzkräfte des SEK stürmten die Wohnung, in der sich der Verdächtige aufgehalten hatte. Das Wohngebiet wurde abgeriegelt.
    Einsatzkräfte des SEK stürmten die Wohnung, in der sich der Verdächtige aufgehalten hatte. Das Wohngebiet wurde abgeriegelt. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Der Sprengstoff, den die Ermittler gefunden hatten, war gut versteckt gewesen.
    Der Sprengstoff, den die Ermittler gefunden hatten, war gut versteckt gewesen. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
    Weil der Transport sehr gefährlich gewesen wäre, hatten Spezialisten den Fund durch gezielte Sprengung in den extra ausgehobenen Erdlöchern in der Siedlung gesprengt.
    Weil der Transport sehr gefährlich gewesen wäre, hatten Spezialisten den Fund durch gezielte Sprengung in den extra ausgehobenen Erdlöchern in der Siedlung gesprengt. © dpa
    Später hatten die Polizisten einen Verdächtigen in Chemnitz festgenommen. Der Syrer soll der Mieter der Wohnung sein, in dem der Sprengstoff gefunden wurde. Gegen ihn wird wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (Paragraf 89a StGB) ermittelt.
    Später hatten die Polizisten einen Verdächtigen in Chemnitz festgenommen. Der Syrer soll der Mieter der Wohnung sein, in dem der Sprengstoff gefunden wurde. Gegen ihn wird wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (Paragraf 89a StGB) ermittelt. © dpa | Bernd März
    Während der Fahndung hatte die Polizei am Nachmittag des 8. Oktober den Hauptbahnhof in Chemnitz abgeriegelt. Die Fahnder hatten zwei Männer festgenommen.
    Während der Fahndung hatte die Polizei am Nachmittag des 8. Oktober den Hauptbahnhof in Chemnitz abgeriegelt. Die Fahnder hatten zwei Männer festgenommen. © dpa | Arno Burgi
    Die Festgenommenen hatten einen Koffer bei sich getragen. Ein ferngesteuerter Roboter zur Bombenentschärfung hatte auf einem Gleis im Hauptbahnhof in Chemnitz den roten Koffer untersucht. Er hatte sich aber als harmlos erwiesen. Die beiden Männer waren am 9. Oktober wieder freigekommen.
    Die Festgenommenen hatten einen Koffer bei sich getragen. Ein ferngesteuerter Roboter zur Bombenentschärfung hatte auf einem Gleis im Hauptbahnhof in Chemnitz den roten Koffer untersucht. Er hatte sich aber als harmlos erwiesen. Die beiden Männer waren am 9. Oktober wieder freigekommen. © dpa | Arno Burgi
    Auch am Berliner Flughafen Schönefeld hatte die Polizei am 8. Oktober die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Die Beamten hatten zahlreiche Fahrzeuge kontrolliert. „Wir hatten Hinweise – nachrichtendienstliche Hinweise – , dass er zunächst einmal Züge in Deutschland angreifen wollte“, hatte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen am 10. Oktober gesagt.
    Auch am Berliner Flughafen Schönefeld hatte die Polizei am 8. Oktober die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Die Beamten hatten zahlreiche Fahrzeuge kontrolliert. „Wir hatten Hinweise – nachrichtendienstliche Hinweise – , dass er zunächst einmal Züge in Deutschland angreifen wollte“, hatte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen am 10. Oktober gesagt. © Getty Images | Clemens Bilan
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    Seibert sagte, der Selbstmord eines Häftlings sei immer schlimm. In Fall von al-Bakr komme hinzu, dass die Arbeit der Ermittler durch den Tod des 22-jährigen Syrers schwieriger werde. Dies betreffe sowohl die Frage nach möglichen Hintermännern als auch den Weg der Radikalisierung von al-Bakr.

    Seibert betonte in diesem Zusammenhang die gute Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten, durch die es gelungen sei, den mutmaßlichen Selbstmordattentäter zu identifizieren. „Die deutschen Sicherheitsbehörden sind sehr gut aufgestellt.“

    Kriminologe kritisiert sächsische Justiz

    Experten hatten nach dem Selbstmord von al-Bakr die sächsische Justiz heftig kritisiert und ihnen Missstände vorgeworfen. Der Kriminologe Christian Pfeiffer aus Hannover zeigte sich entsetzt darüber, dass die Suizidgefahr nicht erkannt worden war. „Eigentlich wollte er einen Heldentod sterben – so einer ist hochgradig selbstmordgefährdet“, sagte Pfeiffer der „Neuen Presse“. Dies sei klar zu erkennen gewesen.

    Die Vollzugsbeamten hätten den Mann in einer Zweierzelle zusammen mit einem arabisch sprechenden Untersuchungshäftling unterbringen oder ihn in der Zelle lückenlos überwachen müssen, sagte Pfeiffer. Er verwies auf den emotionalen Zustand des 22-Jährigen. Danach sei dieser mit seinem Vorhaben „erbärmlich gescheitert“. Er habe sich als Versager gesehen, der ohnehin entschlossen gewesen sei zu sterben.

    Pfeiffer sieht zudem strukturelle Probleme in Polizei und Justiz: „Das sieht man ja auch daran, dass in Sachsen fünfmal so viele rechtsextrem motivierte Taten passieren wie im Rest der Republik.“ In der Landesregierung fehle aus seiner Sicht das Problembewusstsein, sagte der Kriminologie-Professor, der von 2000 bis 2003 für die SPD niedersächsischer Justizminister war. (epd/rtr)