London. Theresa May will den harten Brexit. Eine überparteiliche Koalition von Abgeordneten des britischen Unterhauses will das verhindern.

Bisher hatte Theresa May eigentlich alles im Griff. Die im Juli ins Amt gekommene britische Premierministerin erfreut sich guter Umfragewerte in der Bevölkerung und der Unterstützung durch ihre Partei. Ihre Autorität hatte sie besonders beim Thema Brexit unterstrichen: Sie beansprucht die Interpretationshoheit über die Referendums-Entscheidung der Briten, die Europäische Union verlassen zu wollen. „Brexit bedeutet Brexit“, sagte sie, „und wir machen einen Erfolg daraus“.

Das britische Volk habe entschieden, so Mays Auslegung, dass zum einen die Einwanderung von EU-Bürgern kontrolliert werden müsse und dass zum anderen EU-Recht im Königreich nicht mehr gelten soll. Mit diesen beiden Positionen signalisierte die Premierministerin, dass sie einen sogenannten harten Brexit ansteuern will: den völligen Schnitt mit der EU und den Austritt aus dem Binnenmarkt, denn die Personenfreizügigkeit und die Akzeptanz der Spielregeln sind die Voraussetzungen des gemeinsamen Marktes.

Abgeordnete des Unterhauses wollen Mitspracherecht

Jetzt wird deutlich, dass Theresa May doch nicht so kann, wie sie will. Ihre Machtvollkommenheit kennt Grenzen. Die Premierministerin wurde bei ihrem Versuch, den Brexit möglichst ohne Beteiligung des Parlaments zu organisieren, in die Schranken gewiesen. Die Abgeordneten des Unterhauses verlangen künftig ein Mitspracherecht. Sie verabschiedeten einen Antrag, nach dem die Parlamentarier die Verhandlungsstrategie der Regierung „angemessen prüfen“ dürfen.

May musste dem Antrag notgedrungen zustimmen, denn die Premierministerin hat nur eine Arbeitsmehrheit von 16 Sitzen im Unterhaus, und in ihren eigenen Reihen pochten immer mehr Konservative auf eine Beteiligung des Parlaments. Mit dem Votum formierte sich erstmals ein parteiübergreifender Widerstand gegen die Brexit-Walze: Es gibt jetzt eine informelle Koalition zwischen Abgeordneten aus unterschiedlichsten Fraktionen, um einen harten Brexit zu verhindern.

May beruft sich auf „Königliches Prärogativ“

Am Donnerstag erlebte die Premierministerin eine weitere Herausforderung. Vor dem Londoner High Court begann ein Prozess, der Theresa May verbieten könnte, die Austrittsverhandlungen ohne vorherige Zustimmung des Parlaments einzuleiten.

Es geht um den Artikel 50 des Lissabonner Vertrages. Sobald die britische Regierung diesen Artikel anruft, wird das Austrittsbegehren offiziell und die Uhr tickt: Dann bleiben den Briten lediglich zwei Jahre, um die Modalitäten der Scheidung zu verhandeln. May hat immer darauf bestanden, dass es aufgrund der Regeln des „Königlichen Prärogativs“ ausschließlich ihr zusteht, den Artikel anzurufen. Die Gegenseite argumentiert nicht so: Die Souveränität läge beim Parlament und bei einem so schwerwiegendem Schritt dürfe es nicht nur um eine Entscheidung der Exekutive gehen.

Abgeordnete könnten Brexit rückgängig machen

Sollte die Regierung den Prozess verlieren, hätte das Parlament quasi ein Veto-Recht. May fürchtet, dass dann die Abgeordneten den Brexit rückgängig machen könnten. Die Zahlen dafür sind da. Vor der Referendums-Entscheidung hatten sich mehr als 70 Prozent der Mitglieder des Unterhauses gegen einen Austritt aus der EU ausgesprochen. Im Oberhaus gibt es gleichfalls viele Brexit-Gegner. Und vor Gericht wird eine zen­trale konstitutionelle Frage verhandelt: Wer hat die Macht? Premierministerin oder Parlament? Egal wie die Sache ausgeht, die Verhandlung wird schnell zur nächsten und höchsten Instanz weiterwandern. Noch im Dezember sollte der Supreme Court abschließend urteilen.

Nach der Parteikonferenz der Konservativen hat es einen Stimmungsumschwung gegeben, als klar wurde, dass May einen radikalen Ausstiegskurs steuert. Das Pfund erlebte einen historischen Kurssturz, denn immer mehr Anleger und Investoren denken, dass die britische Wirtschaft auf eine Brexit-Katastrophe zusteuern könnte. Die nationale Währung, urteilte Chefstratege David Bloom von der Großbank HSBC, „ist jetzt die de facto Opposition gegen die Politik der Regierung.“ Tatsächlich ist ein Kurs von 1,22 Dollar alles andere als ein Vertrauensbeweis in das Pfund. Die Preise in britischen Läden dürften künftig kräftig ansteigen.

Rückgang der Wirtschaftsleistung befürchtet

Wirtschaftsverbände warnten vor den „katastrophalen Folgen“ eines harten Brexit: ein Konjunktureinbruch und Jobverluste seien zu erwarten. Bestätigt wurden die düsteren Prognosen in einem durchgesickerten Papier des Kabinettsausschusses. Darin hieß es, dass ein harter Brexit zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von bis zu 9,5 Prozent führen könnte. Der Staat würde deswegen jährlich bis zu 66 Milliarden Pfund weniger an Steuern einnehmen.

Die Hiobsbotschaften haben die Parlamentarier aufgeschreckt. Ein harter Brexit, erklärte der Chef der Liberaldemokraten Tim Farron, wäre „ein Akt von schierem ökonomischen Vandalismus“. Labour-Chef Jeremy Corbyn warnte vor einem „chaotischen Tory-Brexit“. Auch eine Reihe von konservativen Abgeordneten stellte sich gegen ihre Parteichefin. Schützenhilfe bekommen diese von einer wiedererstarkten Labour-Partei, die sich nach internen Querelen rückbesinnt auf ihre Oppositionsrolle. Keir Starmer, der neue Brexit-Minister im Schattenkabinett, legte der Regierung 170 Fragen vor – eine für jeden Tag bis zum angepeilten Verhandlungsbeginn Ende März 2017.

Schottlands Pläne zur Unabhängigkeit konkretisieren sich

Auch die Chefin der schottischen SNP, Nicola Sturgeon, will sich einreihen in „eine Koalition gegen einen harten Brexit“, wie sie auf dem Parteitag in Glasgow erklärte. Und um weiter Druck auf London zu machen, kündigte sie für nächste Woche einen Gesetzesentwurf für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für Schottland an.