Leipzig. In Leipzig endet die Flucht des Verdächtigen Dschaber al-Bakr. Nicht die Polizei, sondern drei syrische Landsleute setzen ihn fest.

Sie sind zu dritt und leisten ganze Arbeit, quasi schneller als die Polizei erlaubt. Drei Syrer haben am Sonntag Dschaber al-Bakr erkannt und festgehalten, überwältigt, gefesselt und sogar fotografiert. Zwei von ihnen bleiben in der Wohnung im Nordosten Leipzigs. Der dritte Mann macht sich – die Uhr geht längst auf Mitternacht zu – auf den Weg zur nächstbesten Polizeistelle in der Stadt. Er wird im Polizeirevier Südwest vorstellig, zeigt zum Beweis das Handyfoto vom Verdächtigen und bittet, ihn abzuholen. „Was wir dann auch unverzüglich getan haben“, wie der Präsident des sächsischen Landeskriminalamtes (LKA), Jörg Michaelis, versichert.

Dies ist nicht die Geschichte einer polizeilichen Erfolgsstory, aber ein Happy End hat sie doch. Die drei Syrer haben vollbracht, worum sich 700 Beamte des LKA zwei Tage lang vergeblich bemüht haben: Den Bombenbastler von Chemnitz gestellt. Eigentlich seltsam, dass weder Michaelis noch Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) am Montag ihre Leistung hervorheben, sondern eher verdruckst ins Generallob für die Hinweise aus der Bevölkerung einschließen.

Der Verdächtige lag gefesselt und abholbereit in der Wohnung

Einer der drei, Mohammed A., erklärt später gegenüber RTL, der flüchtige Syrer habe sich freikaufen wollen. „Wir haben ihm gesagt, du kannst uns so viel Geld geben wie du willst, wir lassen dich nicht frei.“ Sein Anruf bei der Polizei sei zunächst aufgrund von Verständigungsproblemen erfolglos geblieben, schildert der Syrer weiter. Daraufhin sei er mit einem Foto von Al-Bakr zu einem Polizeirevier gefahren.

Die Beamten im Leipziger Revier gehen auf Nummer sicher und alarmieren ein Sondereinsatzkommando. Als die stark bewaffneten, bestens ausgerüsteten Kräfte zur Stelle sind, werden sie nicht mehr gebraucht. Ihre regulären Kollegen haben den 22 Jahre alten Syrer kurz nach Mitternacht in Gewahrsam genommen, kein Kunststück, weil sie ihn abholbereit, gefesselt vorfinden und er unbewaffnet ist.

Minister singt Loblied auf soziale Netzwerke

Der Flüchtling wird zur Identifizierung in die Polizeidirektion Leipzig gebracht. Als alle Zweifel beseitigt sind, twittert die sächsische Polizei um 6.06 Uhr: „Wir sind geschafft, aber überglücklich“. Gut sieben Stunden später tritt Minister Ulbig in Dresden vor die Presse. Streng genommen ist es nicht mehr ein Fall der Sachsen. Der Generalbundesanwalt hat ihn an sich gezogen. Aber Ulbig will sich nicht nehmen lassen, „den großartigen Erfolg“ selbst zu verkünden, das hohe Lied auf seine Beamten, auf die Zusammenarbeit der Behörden und auf die sozialen Netzwerke bei der Fahndung zu singen. „Twitter und Co. sind aus diesem Bereich nicht mehr wegzudenken“, sagt er.

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Der Politiker klingt aufgekratzt. Ulbig kann mehr mit Euphorie als mit neuen Fakten dienen. Im Wesentlichen erfährt man, was schon in anderen Berichten steht. Neu ist immerhin, dass nun zweifelsfrei feststeht, dass Al-Bakr Kontakte zum „Islamischen Staat“ (IS) hatte und dass die Vorbereitungen für einen Anschlag arg weit fortgeschritten waren. Von einer Sprengstoffweste ist die Rede.

Nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes wollte der Terrorverdächtige einen Flughafen in Berlin attackieren. „Wir hatten Hinweise, dass er zunächst einmal Züge in Deutschland angreifen wollte. Zuletzt konkretisierte sich dies mit Blick auf Flughäfen in Berlin“, sagte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen am Montagabend der ARD.

Anschlagshinweise seit Anfang September

Seine Behörde habe Anfang September einen Hinweis bekommen, dass der IS in Deutschland einen Terroranschlag gegen Infrastruktur plane. „Wir haben (...) bis Donnerstag letzter Woche gebraucht, um herauszufinden: Wer ist dafür in Deutschland verantwortlich?“, so Maaßen. Dann sei die gesuchte Person identifiziert worden. „Wir haben sofort die Observation durchgeführt“, schilderte Maaßen.

„Eine 24/7-Observation – also Rund-um-die-Uhr-Observation. Wir haben (...) festgestellt, dass er am folgenden Tag in einem Ein-Euro-Shop dann Heißkleber kaufte. Und unverzüglich haben wir dann alle Maßnahmen in Bewegung gesetzt, damit ein Zugriff erfolgte, weil wir davon ausgingen: Dies kann im Grunde genommen die letzte Chemikalie sein, die für ihn notwendig war, um eine Bombe herzustellen.“

Komplize reiste als Flüchtling nach Deutschland

Bekannt wurden nun auch Details zu einer zweiten Festnahme am Vortag in Chemnitz. Der mutmaßliche Komplize ist wie Al-Bakr Syrer, aber deutlich älter (33 Jahre) und reiste als Flüchtling im November 2015 ein, auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegung und später als Al-Bakr.

Khalil H. heißt der Mann. Er kam erst im nordrhein-westfälischen Viersen unter, beantragte in Bad Berleburg Asyl, bevor er im Juli 2016 nach Chemnitz übersiedelte. Er ist der Mann, der die Wohnung in Chemnitz gemietet hatte, wo die Polizei Behälter mit 1,5 Kilogramm TATP–Sprengstoff fand. Das ist der gleiche Stoff, wie ihn die Terroristen von Brüssel und Paris benutzt hatten. Ihrer Vorgehensweise ähnelten die Vorbereitungen in Chemnitz, wie Innenminister Thomas de Maizière (CDU) in Berlin feststellt.

Polizei gab einen Warnschuss ab

Auch dem Verdächtigen Al-Bakr war die Polizei bereits in Chemnitz auf den Fersen. In Chemnitz war der Syrer den Beamten aber noch entkommen, bevor sie das Wohnhaus stürmen konnte: Nachdem das Bundesamt für Verfassungsschutz die Behörden auf den jungen Syrer aufmerksam gemacht hatte, verloren die Sachsen am Freitag keine Zeit. Als die Beamten eintrafen, standen sie allerdings vor einem Haus mit mehreren arabisch klingenden Klingelschildern und wussten nicht, welche Wohnung Al-Bakr zuzuordnen war. Als am Sonnabend um sieben Uhr – offenbar kurz vor der vorbereiteten Anti-Terror-Razzia – ein junger Mann das Gebäude verließ, wussten sie auch nicht, ob es sich um Al-Bakr handelte.

Sie riefen ihn auf, stehen zu bleiben, gaben einen Warnschuss ab, er aber rannte den Beamten davon. Es war selbst für durchtrainierte Polizisten ein ungleicher Wettlauf. „Die unmittelbare Verfolgung scheiterte“, räumt LKA-Präsident Michaelis ein. Die Beamten tragen Schutzwesten, die 30 Kilogramm schwer sind. Bald blasen sie die Verfolgungsjagd ab, zumal sie da noch nicht genau wissen, hinter wem sie hergerannt waren, Al-Bakr oder irgendeinem anderen Flüchtling.

Al-Bakr wurde europaweit gesucht

„Wir haben jetzt einen Riesenberg an Ermittlungsarbeit vor uns“, sagt Michaelis. Die Behörden müssen aufklären, wie Al-Bakr der Polizei zwei Tage lang entkommen und durch alle Kontrollen schlüpfen konnte. Europaweit und in mehreren Sprachen hat man ihn gesucht. Weit gekommen war er nicht, nur knapp 90 Kilometer von Chemnitz nach Leipzig. Nach dpa-Informationen hatte Al-Bakr einen Syrer am Hauptbahnhof angesprochen und gefragt, ob er bei ihm schlafen könne.

Verschärfte Abschieberegelungen für Gefährder geplant

Bundesweit wird die Nachricht aus Leipzig mit Erleichterung aufgenommen. In Berlin dankte Justizminister Heiko Maas (SPD) „allen, die zu diesem Fahndungserfolg beigetragen haben“. Zweifelsfrei gilt das für die Geheimdienste, über die sächsische Polizei wird hinter vorgehaltener Hand geklagt, dass sie keine wirklich gute Figur abgegeben habe. Politisch ist die Diskussion allerdings schon weiter. De Maizière hat beispielsweise weitere Pläne für verschärfte Abschieberegelungen für sogenannte Gefährder auf den Weg gebracht.

Diskutiert wird über mehr Mittel und Personal für die Sicherheitsbehörden, aber auch über die Rolle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Das steht im Verdacht, die Pässe der Flüchtlinge zu lasch zu überprüfen, Auffällige zu spät oder gar nicht zu melden. Brauchen die Sicherheitsbehörden einen Zugriff auf die Asylbewerberdatei?

Merkel richtet ihren Dank aus

Die „wahre Schlagzeile“ würde Armin Laschet völlig anders formulieren. Für den CDU-Vizechef lautet sie: „Syrer fasst flüchtigen Terrorverdächtigten und übergibt ihn gefesselt.“ Es ist eine Erzählung, die Kanzlerin Angela Merkel (CDU) – auf Auslandsreise in Afrika unterwegs – gerade recht kommt: Die Geschichte vom anständigen, staatstreuen Flüchtling. Noch am Montag lässt die Kanzlerin ihnen ihren Dank ausrichten. (mit dpa)