Berlin. Der Kreml arbeitet weiter mit allen Mitteln an der Wiederherstellung imperialer Macht. Dem Westen indes fehlt es einer Gegenstrategie.

Schreiende Kinder, die aus dem Schutt von Aleppo geborgen werden, Bombenhagel auf Krankenhäuser: Dazu eine erbarmungslos voranschreitende syrische Militär-Maschinerie, durch russische Luftschläge unterstützt. Wie viele dieser Bilder kann die Öffentlichkeit im Westen ertragen? Wie viel Ohnmacht ist zumutbar? Gibt es irgendwann einen Srebrenica-Moment wie im Bosnienkrieg Mitte der 90er-Jahre?

In Berlin und Washington – so scheint es – geht die Geduld mit Moskau langsam zu Ende. „Eine Folgen- und Sanktionslosigkeit schwerster Kriegsverbrechen wäre ein Skandal“, kritisiert der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU). „Wir müssen Russland weiter unter Druck setzen mit Wirtschaftssanktionen“, verlangt der CDU-Europapolitiker Elmar Brok. Er spricht sich für technologische Sanktionen aus, die die Waffenentwicklung hemmen – „wie wir das schon zu Zeiten des Kalten Krieges gemacht haben“.

USA bringen Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen ins Spiel

Zuvor hatte der Sprecher des Weißen Hauses Josh Earnest bereits mitgeteilt, die US-Regierung schließe die Verhängung von wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Syrien und Russland nicht aus, sollten die Partner mitziehen. US-Außenminister John Kerry brachte am Freitag gar Ermittlungen gegen Russland und Syrien wegen möglicher Kriegsverbrechen ins Spiel.

Die Bundesregierung zeigt zumindest moralische Sympathie für die Forderung nach schärferen Sanktionen. „Angesichts der wirklich entsetzlichen Situation in Aleppo, für die es bald keine Worte mehr gibt, angesichts der ungebrochenen Eskalation der Gewalt in Syrien, der fortgesetzten Berichte über Kriegsgräuel bis hin zu Kriegsverbrechen und eben des andauernden Leids der Zivilbevölkerung haben wir Verständnis dafür, dass über alle Optionen nachgedacht wird“, betont Regierungssprecher Steffen Seibert.

Merkel: Dieses grauenhafte Verbrechen so schnell wie möglich beenden

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzt bei aller Empörung auf den realpolitischen Hebel und plädiert für einen Waffenstillstand. „Ich kann auch hier nur an Russland appellieren, Russland hat viel Einfluss auf Assad: Wir müssen dieses grauenhafte Verbrechen so schnell wie möglich beenden“, so Merkel. Der Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russischen Beziehungen, Gernot Erler (SPD), hat vor neuen Sanktionen gegen Russland gewarnt. Die vom Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses Norbert Röttgen (CDU) ins Spiel gebrachten Wirtschaftssanktionen gegen Russland „bringen da keinen Schritt weiter“, sagte Erler dieser Redaktion. Röttgen selbst konzediere, so Erler, „bestenfalls hätte das langfristige Wirkungen auf die Kreml-Politik“.

Wünsche, Mahnungen, gelegentlich verbale Breitseiten. Eine Strategie gegenüber Moskau hat der Westen aber nicht. Russlands Präsident Wladimir Putin verfügt hingegen über eine klare Marschroute. Er will durch eine Politik der eisernen Faust Fakten schaffen. Er rüstet Syriens Machthaber Baschar al-Assad auf und aus. Am Freitag ratifizierte die Staatsduma ein Abkommen über die unbefristete Stationierung von Kampfflugzeugen, Hubschraubern und Soldaten auf einem russischen Stützpunkt in Syrien.

Putin spekuliert auf die Schwäche Amerikas und Europas

An einem demokratischen Dialog der verschiedenen Gruppierungen zur Schaffung einer Übergangsregierung, die über Assad hinausweist, hatte Putin nie ernsthaftes Interesse. Ihm ging es stets um das geopolitische Schachspiel: die Demütigungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vergessen machen, die größere Supermacht Amerika in die Schranken weisen, als Weltmacht im Nahen Osten die Regeln diktieren. Putins Kalkül beruht auf zwei Voraussetzungen. Erstens, US-Präsident Barack Obama scheut eine größere militärische Intervention in Syrien. Sein Augenmerk gilt dem breiten Rückzug nach den teuren Kriegen in Afghanistan und im Irak. Das entstandene Macht-Vakuum will der Kremlchef maximal ausnutzen.

Darüber hinaus spekuliert er auf die – zumindest zeitweise Schwäche – Amerikas und Europas. Die USA wählen am 8. November einen neuen Präsidenten, der erst Ende Januar 2017 ins Amt eingeführt wird. Bis dahin liegt Washingtons außenpolitische Handlungsfähigkeit praktisch auf Eis. Frankreich kürt im kommenden Frühjahr einen neuen Staatschef, und in Deutschland finden im Herbst Bundestagswahlen statt.

Moskau erwägt Reaktivierung von Militärstützpunkt in Kuba

Einstweilen versucht Putin, die Landschaft in seinem Sinne umzupflügen. Zu diesem Zweck setzt er auf seinen vielfach erprobten machtpolitischen Instrumentenkasten. Mal ist es die nackte Provokation, mal die dreiste Einschüchterung, mal der plötzliche Überraschungseffekt: Der russische Präsident liebt es, den Westen auf dem falschen Fuß zu erwischen und unberechenbar zu bleiben.

Neueste Kostprobe: Moskau erwäge die Reaktivierung von Militärstützpunkten in Kuba und Vietnam, sagt der Vize-Verteidigungsminister Nikolai Pankow. Insbesondere die Pläne auf der nahe gelegenen Karibikinsel dürften die Amerikaner auf die Palme bringen. Eine Mischung aus Provokation und Einschüchterung ist der brutale Angriff auf einen UN-Hilfskonvoi am 19. September. Russland flankierte die Operation, an der es nach westlicher Einschätzung zumindest mitbeteiligt war, mit Propaganda-Nebelkerzen wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Erst hieß es, ein Brand und keine Bombardierung sei die Ursache. Danach wurde die Version verbreitet, ein Mörser auf einem Begleitfahrzeug von islamistischen Terroristen habe die Lastwagen beschossen. Zum Schluss kam der Vorwurf, bewaffnete US-Kampfdrohnen steckten hinter dem Angriff.

Welchen Zug Moskau auch immer unternommen hat: Der Westen sah sich überrumpelt. Auch die russische Militär-Intervention in Syrien am 30. September 2015 kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Wenige Tage zuvor hatte Putin auf der UN-Vollversammlung noch das Hohelied der Diplomatie angestimmt.