Berlin. Unabhängige Historiker haben seit längerem Einblicke in die umfassenden BND-Archive erhalten. Ergebnisse haben sie nun präsentiert.

Alles neu hier beim Bundesnachrichtendienst, alles frisch. Im Flur jungfräuliche Wände aus gewaschenem Beton, die Zwischendecke erstrahlt in hellem Weiß. Dieses Jahr wird der neue Hauptsitz des BND an der Chausseestraße in Berlin Mitte fertig sein. Nein, hier steckt nichts im Gebälk.

Im Gebälk stecken – so sagt man doch, wenn etwas tief eingedrungen ist in die Substanz eines Hauses, eines Unternehmens, einer Behörde. Dem Bundesnachrichtendienst steckt die NS-Zeit im Gebälk. Schon 1946, also ein Jahr nach der bedingungslosen Kapitulation in einem Deutschland, das sprichwörtlich ein einziger Trümmerhaufen war, wurde in der amerikanischen Besatzungszone offiziell wieder ein deutscher „Nachrichtendienst“ gegründet: die Organisation Gehlen, benannt nach dem Leiter Reinhard Gehlen.

Ein Forschungsprojekt für 2,3 Millionen Euro

Denn der eine Krieg war zu Ende, doch der nächste stand schon an: der Kalte Krieg. Und wer wusste besser über die Rote Armee und die Zustände der Sowjetunion Bescheid als die, die als Wehrmachtsangehörige, SS- und SD-Leute dort gewütet hatten? Jemand wie Reinhard Gehlen, der als Generalmajor der Wehrmacht die Abteilung „Fremde Heere Ost“ geleitet hatte – und vorausschauend Unterlagen und Informationen aus diesen Tagen in die Nachkriegswelt rettete. Mein Feind ist dein Feind, sagten sich die CIA-Leute. Hauptsache antikommunistisch. Und so nahmen sie Leute wie Gehlen in Lohn und Brot. Schwamm drüber, was vorher war.

Der BND stellt sich nun dieser Geschichte, endlich, möchte man sagen – 71 Jahre nach Kriegsende und pünktlich zum 60-jährigen Jubiläum (der BND wurde 1956 aus der Organisation Gehlen gegründet). Seit 2011 darf eine „Unabhängige Historikerkommission“ (UHK) im lange unzugänglichen BND-Archiv forschen: „Die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes. Von den Anfängen bis 1968“. Die ersten vier Bände der Reihe wurden nun in Berlin vorgestellt, im Neubau des BND, der fast bezugsfertig ist. Ein Mentalitätswechsel finde gerade statt, erläutert BND-Präsident Bruno Kahl, der Umzug ins Zentrum der Hauptstadt sei kein Zufall. Man wolle dem Bürger zeigen, dass man da sei, man wolle sich öffnen. „Dazu gehört auch eine kritische Selbstbetrachtung.“ Das hat man sich etwas kosten lassen: 2,3 Millionen Euro hat das Projekt mit seinen vier Professoren und vielen Mitarbeitern den BND gekostet.

Dreizehn Bände zur Geschichte der BND

Dass eine Institution ihren Übergang von der NS-Zeit zur bundesrepublikanischen Nachkriegswelt erforschen lässt, ist nicht ganz neu. Das Bundeskriminalamt und das Auswärtige Amt haben auch schon ihre Archive geöffnet, und man kann sagen, die personellen Kontinuitäten zwischen dem Dritten Reich und der Demokratie waren dort erschreckend. Wie würde es nun beim BND sein?

Wer glaubt, er nimmt nun ein einziges Buch zur Hand, liest sich durch einige Hundert Seiten und weiß dann mehr, der täuscht sich. Die Professoren der Historikerkommission haben sich dazu entschlossen, dreizehn verschiedene Bände zur Geschichte des BND bis 1968 herauszugeben: vom Sozialprofil des BND über das „Sicherheitsrisiko NS-Belastung“ bis zu einer Biografie Reinhard Gehlens. Dazu noch Bände, die das operative Vorgehen des BND im In- und Ausland beleuchten. Die meisten Bücher sind allerdings noch nicht erschienen, vorgestellt wurden jetzt nur die ersten Bände: „Sozialprofil des BND“, „Sicherheitsrisiko NS-Belastung“, „Phantome des Kalten Kriegs“ und „Geheimdienstkrieg in Deutschland“.

Diese Häppchenproduktion sagt etwas über den Zustand der deutschen Geschichtswissenschaft aus. Man arbeitet akribisch und detailverliebt kleine Bereiche ab. Gründliche Standardlektüren, die sicherlich ein fester Bestandteil in jedem Handapparat eines historischen Seminars zum Thema „Kalter Krieg“ werden. Der große Wurf aber, auch erzählerisch, fehlt hier. Die erschienenen Bücher sind interessanter, aber eher harter Historiker-Zwieback. „Es geht nicht um eine bloße Geheimdienstgeschichte, sondern um die Geschichte des BND als Teil der Bundesrepublik-Geschichte“, hatte der Sprecher der UHK, Klaus-Dietmar Henke, Professor für Zeitgeschichte aus Dresden, versprochen.

„Stark von Veteranen der Wehrmacht beherrscht“

Das Versprechen ist so noch nicht eingelöst. Es fehlt die eigene Autoren-Handschrift, die sich traut, die Ergebnisse der Archivforschung mit dem Wissen und den Fakten der Nachkriegszeit zu verweben. Womöglich kommen diese Bände ja noch. Die Bücher der Professoren selbst sind noch nicht erschienen. Und womöglich wollte man mit den ersten vier Bänden auch erstmal eine Basis legen. Worüber reden wir beim BND? Wer sind seine Mitarbeiter? Und – die Gretchenfrage – wie hoch ist die Belastung mit ehemaligen NS-Angehörigen?

Der BND sei, schreibt Christoph Rass in seinem Band „Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes“, in den 60er-Jahren „stark von Veteranen der Wehrmacht beherrscht“ gewesen. In den 50er-Jahren, so Rass weiter, hatte eigentlich jeder Mitarbeiter irgendeinen engen Bezug zu NS-Institutionen: sei es Wehrmacht oder Parteimitgliedschaft oder eine Organisation wie SS, SD oder Gestapo. Das Maß ihrer Belastung, ihrer Beteiligung an Verbrechen in der NS-Zeit, variiert stark. Rass fand aber in seiner quantitativen Analyse heraus: Je eindeutiger ein BND-Mitarbeiter belastet war, desto unmöglicher wurde ihm der Aufstieg. Die Schlimmsten, wenn man so will, saßen nicht ganz oben.

50 Todesurteile im Rahmen Roter Kapelle

Aber was heißt das schon, wenn es konkret wird? In „Phantome des Kalten Krieges“ rekonstruiert Gerhard Sälter die irre Jagd auf ein Hirngespinst: die „Rote Kapelle“. In den 40er-Jahren hatte die Gestapo ganz verschiedene, angeblich kommunistische Widerständler unter diesem Namen zusammengefasst, „ein Gestapomythos“, wie Sälter schreibt. Über 50 Todesurteile wurden zu NS-Zeiten im Rahmen der Roten Kapelle gefällt, die berühmtesten sind wohl Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack.

Nach dem Krieg behaupten nun die gleichen Männer, die in der Nazi-Zeit als Gestapo-Leute die Widerständler verfolgten und inzwischen beim BND arbeiten, ein Wiederaufleben der Roten Kapelle: „Die RK ist (...) eine paneuropäisch arbeitende sowjetische Spi-Organisation“, heißt es in den BND-Unterlagen. Auch Angehörige ermordeter Widerständler geraten nun in den Fokus, werden über Jahre bespitzelt. Der CDU-Politiker Jakob Kaiser, der Publizist Eugen Kogon, sogar Elisabeth Noelle-Neumann mit ihrem Allensbacher Umfrage-Institut geraten ins Visier. Wer liberal denkt, wer gegen Hitler kämpfte, wer mal mit der DDR liebäugelte: alle verdächtig. „Das war wie Spectre bei James Bond“, sagt Gerhard Sälter auf der Bühne des BND.

Abgründe in der Bundesrepublik

Die, die schon in der NS-Zeit verfolgt haben, machen einfach weiter – nur jetzt unter demokratischen Vorzeichen. „Auch Gehlen war von der Chimäre überzeugt“, sagt Henke. Wie perfide muss es gewesen sein, in der demokratischen Bundesrepublik seine Peiniger wieder im Nacken zu haben? Von den vier Bänden lässt dieses Buch am ehesten erahnen, welche Abgründe sich in der Bundesrepublik auftun konnten. Die Mörder machten einfach weiter. Mit gutem, antikommunistischem Gewissen.

Erst 1963 macht sich die BND-interne „Organisationseinheit 85“ daran, ihre eigenen Leute auf NS-Belastung zu durchleuchten. Weniger aus einem Schamgefühl heraus, sondern aus Angst, BND-Mitarbeiter könnten durch ihre Vergangenheit von anderen Geheimdiensten erpressbar sein. Am Ende wurden 68 „NS-belastete“ BND-Mitarbeiter entlassen. Allerdings „belastet“ nach damaligem Standard. Die Wehrmacht und ihre Verbrechen sind da beispielsweise noch lange nicht im Fokus.

Das Projekt der UHK ist spannend und für einen Geheimdienst sicher einmalig. „Am lebendigen Leib“ habe man den BND sezieren können, meint Henke, wo habe es das schon mal gegeben? Nur bei der Staatssicherheit nach 1989. Die Wahrheit ist aber auch: West-Deutschland, die alte Bundesrepublik, sie sind genauso passé. Auch deshalb lässt der BND so tief in seine Archive blicken. Man darf auf die nächsten Bände gespannt sein.