Berlin. Das Bundesteilhabegesetz ist dafür gedacht, Menschen mit Behinderung das Leben zu erleichtern. Kritiker fürchten aber das Gegenteil.

Für die einen ist es eine riesige Enttäuschung, für die anderen eine der großen Sozialreformen der Regierung: Mit dem Bundesteilhabegesetz sollen Behinderte künftig selbstständiger leben und arbeiten können. Behindertenvertreter, Gewerkschaften, aber auch Fachleute aus allen Bundestagsparteien fürchten dagegen genau das Gegenteil: dass viele behinderte Menschen in Zukunft schlechtergestellt werden. Jetzt hat das Tauziehen im Parlament begonnen.

In Deutschland leben mehr als zehn Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung, davon 7,5 Millionen Schwerbehinderte. Mehr als 700.000 beziehen die staatliche Eingliederungshilfe. Mit den Geld- und Sachleistungen werden Behinderte beim Leben in einer eigenen Wohnung unterstützt, bei der Arbeit in einer Behindertenwerkstatt oder auch in ihrer Freizeit. Zu den Leistungen gehören Assistenten, etwa für Rollstuhlfahrer, Fahrdienste zum Arbeitsplatz oder Ausgaben für einen Blindenhund. Zur Eingliederungshilfe zählen aber auch Zahlungen, die Werkstätten oder Betreiber von Wohnstätten für Behinderte erhalten. Diese Leistungen sollen nun im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes neu geregelt werden.

Sehbehinderte sehen sich vor Problem

„Niemand soll schlechtergestellt werden, den meisten wird es sogar besser gehen“, erklärte Bundessozialministerin Andrea Nahles am Donnerstag, bei der ersten Lesung im Bundestag. Die SPD-Politikerin räumte allerdings ein, dass es „viele Fragen und viele Sorgen“ gebe. Etwa bei der Frage, wer künftig Anspruch auf Leistungen hat: Nur wer in fünf von neun Lebensbereichen erhebliche Einschränkungen hat, soll nach den Regierungsplänen in Zukunft Leistungen aus der Eingliederungshilfe bekommen.

Für Sehbehinderte etwa könnte das ein Problem werden: Andreas Bethke, Geschäftsführer des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands, findet die Regelung daher falsch: Künftig müsse man sich vor den Behörden deutlich behinderter darstellen, als man eigentlich sei, um überhaupt finanzielle Unterstützung zu bekommen.

Erwerbstätigkeit soll sich stärker lohnen

Auch die behindertenpolitische Sprecherin der Grünen, Corinna Rüffer, kann nichts Gutes in der Regelung sehen: Selbst wer als Behinderter nur in einem Lebensbereich Probleme habe, brauche doch aber genau in diesem Bereich Unterstützung, argumentiert die Grünen-Politikerin.

Nicht weit genug geht das Gesetz den Kritikern in einem anderen Punkt: Wer die staatliche Eingliederungshilfe bekommt, muss heute mit Abzügen bei Gehalt und Vermögen rechnen. Das soll sich ändern. Die Freibeträge steigen, Erwerbstätigkeit soll sich stärker lohnen. Menschen mit Behinderung sollen auch trotz staatlicher Zahlungen mehr sparen können. Der Freibetrag erhöht sich hier von 2600 Euro schrittweise bis 2020 auf 50.000 Euro.

Einkommen und Vermögen werden besser geschützt

Selbstgenutztes Wohneigentum und Riester-Altersvorsorge werden nicht angerechnet. Auch das Einkommen und das Vermögen von Partnern werden ab 2020 bei der Eingliederungshilfe nicht mehr herangezogen. Diese Regelung, sagt Nahles, habe in vielen Fällen als Ehehindernis gewirkt.

Die Kritiker – darunter die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, der Deutsche Behindertenrat, der Paritätische Gesamtverband, das Deutsche Rote Kreuz und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) – fordern jedoch, dass Einkommen und Vermögen grundsätzlich nicht bei der staatlichen Hilfe angerechnet werden. Was allerdings die Reform deutlich teurer machen würde: Allein die jetzigen Verbesserungen sollen rund 700 Millionen Euro im Jahr kosten und werden vom Bund getragen. Insgesamt geben Länder und Kommunen pro Jahr rund 17 Milliarden Euro für die Eingliederungshilfe aus.

Gesetz wird nachgebessert werden müssen

Ärger bei den Experten gibt es auch mit der geplanten Bündelung von Hilfsleistungen: Kommunen und Länder sollen zum Beispiel einen Begleiter für mehrere Menschen mit Behinderung einsetzen dürfen. „Zwangspooling“ nennen die Kritiker das. Das neue Gesetz stärke die Wunsch- und Wahlrechte nicht – es beschneide sie. Linken-Abgeordnete Katrin Werner hat ein einfaches Beispiel: Wenn sich zwei behinderte Menschen einen Assistenten teilen müssten, „dann kann nicht mehr der eine ins Kino gehen und der andere zum Sport“. Ergebnis: weniger statt mehr selbstbestimmtes Leben.

Neben den Änderungen bei der Eingliederungshilfe soll es künftig Lohnkostenzuschüsse von bis zu 75 Prozent geben, um Behinderten neben einer Beschäftigung in speziellen Werkstätten auch eine Brücke zum ersten Arbeitsmarkt zu bahnen. Das gesamte Paket wird nun in den kommenden Wochen im Parlament weiter beraten – bereits jetzt steht fest: Es wird Nachbesserungen geben.