Berlin. 2015 starben zehn Menschen, weil Polizeibeamte auf sie schossen – drei mehr als 2014. Die Zahl der Verletzten ist hingegen gesunken.

Es ist das letzte Mittel. Und wohl jeder Polizist ist froh, wenn ihm das Trauma erspart wird: wenn er nicht abdrücken muss. 40-mal haben Beamte 2015 auf Menschen geschossen, weniger als im Vorjahr. Da waren es 45.

2015 wurden 22 Menschen verletzt (2014: 30) und zehn starben. Das waren drei Todesfälle mehr als im Vorjahr. Die Zahlen sind neu und stammen von der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster, die sie im Auftrag der Innenministerkonferenz ermittelt hat.

Griff zur Pistole in der Regel Notwehr

Länder wie Hessen, Bayern oder Niedersachsen verzeichnen je einen Todesfall, Hamburg keinen. Drei sind es in Nordrhein-Westfalen (NRW), im größten Bundesland. An der Größenordnung ändert sich seit Jahren wenig – kein Vergleich mit den USA. Dort sind es 2,6 Todesfälle – pro Tag. Statistisch sterben in Amerika bis einschließlich 4. Januar durch Polizeikugeln so viele Menschen wie in Deutschland im Laufe eines ganzen Jahres.

Hierzulande wird jeder Fall untersucht; darauf, ob der Waffengebrauch verhältnismäßig war. In der Regel ist der Griff zur Pistole Notwehr. In einem Fall wurde 2015 mit dem Todesschuss ein Verbrechen verhindert. Insgesamt wurden seit 1952 laut Wikipedia 476 Menschen von der Polizei erschossen.

2016 dürfte Statistik kaum besser sein

Die Statistiken sind heikel und der Waffeneinsatz mitunter ein Politikum. Die AfD-Vorsitzende Frauke Petry rief dazu auf, Flüchtlinge notfalls mit der Waffe am illegalen Grenzübertritt zu hindern. Die Grünen-Politikerin Renate Künast sorgte im Juli für ein Aufsehen ganz anderer Art, als sie nach den Todesschüssen auf den Attentäter von Würzburg twitterte: „Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden?“

Es wird rauer in Deutschland. 2016 dürfte die Statistik kaum besser ausfallen. Eine kleine, keineswegs vollständige Auswahl von Vorfällen lässt das befürchten. Im Februar schießt ein Mobiles Einsatzkommando in Mecklenburg-Vorpommern auf einen Mann. Im März feuert in Berlin ein Zivilfahnder auf einen mutmaßlichen Einbrecher, in Bremen wird eine 17-Jährige schwer verletzt. Im Mai kommt aus Ludwigshafen die Meldung von einem Notwehrfall – ein Mann hatte Polizisten mit dem Messer angegriffen. Im Juli dann sorgt das Würzburger Attentat für Schlagzeilen, im August werden erneut zwei Fälle gemeldet, diesmal aus Berlin und Brandenburg.

Gewalt gegen Polizisten nimmt zu

Es gebe zahlreiche Einsätze mehr, „in denen Beamte hätten schießen dürfen“, sagt Oliver Malchow, Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), unserer Redaktion. Es sei nur der guten Ausbildung und Professionalität zu verdanken, „dass nicht häufiger von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wird“. In NRW beteuert das Innenministerium, nicht zu schießen sei oft genauso schwierig, wie abzudrücken, „das sind extreme Stresssituationen“.

Polizisten würden immer häufiger Opfer von Gewalttaten, beklagt Malchow. Auf Deutschlands Straßen sei es gefährlicher geworden. Nach dem Lagebild des Bundeskriminalamts für 2015 gab es 20.258 Fälle des Widerstands gegen Polizeivollzugsbeamte. Ein Großteil der Attacken ereigne sich im täglichen Streifendienst und gehe häufig von Einzeltätern aus, erzählt Malchow. Die Zahl der kleinen Waffenscheine steigt. Dazu kommen die Anscheinwaffen, die täuschend echt aussehen. Im Konfliktfall macht das die Situation nicht einfacher.

Rudelbildung als neue Strategie gegen Polizisten

Wenn die Bereitschaftspolizei zu einer Demonstration oder ins Stadion anrückt, um Hooligans in Schach zu halten, sind die Beamten gewarnt, vorbereitet, für den Ernstfall gewappnet. Dafür trainieren sie. Aber wenn ein Streifenpolizist bei einem Routineeinsatz plötzlich von einer Gruppe bedrängt wird, ist er da nicht schnell überfordert?

Aggressive Rudelbildung scheint die neue Strategie gegen Polizeieinsätze zu sein, allein in Berlin zweimal im August. In München eskaliert Anfang des Jahres ein Streit zwischen Jugendgruppen zu einem polizeilichen Großeinsatz. Im Mai bedrängen in Essen 30 Leute zwei Ordnungshüter, als sie einen Strafzettel ausstellen wollen. Im September umringt und beschimpft eine Menschenmenge in Dortmund zwei Beamten, die einen Jugendlichen festnehmen. Er hatte einem anderen Jugendlichen eine Waffe an den Kopf gehalten.

Fast 12.000 Schüsse auf Tiere

Häufig entschärfen die Beamten die Situation, weil sie abwarten und abwägen, in Malchows Augen ist es „ein Qualitätsmerkmal“ seiner Kollegen. Manchmal erscheint es angebracht, einen Warnschuss zu feuern, 48-mal im Jahr 2015 – nach 65-mal im Vorjahr. Der häufigste Grund dafür ist Notwehr. Ein Warnschuss kann auch ein Mittel sein, um ein Verbrechen, eine Flucht oder einen Gefängnisausbruch zu vereiteln.

Am häufigsten wird die Polizei gerufen, um kranke, verletzte oder gefährliche Tiere zu töten. In einem Flächen- und Agrarland wie Bayern geschah es immerhin in 1824 Fällen, in Hamburg 40 und in Berlin 56-mal, bundesweit insgesamt in 11.888 Fällen. Zum Vergleich: 2014 waren es 10.157.

„Hartes, aber zulässiges Mittel“

In Berlin sind zwölf Vorfälle noch offen: Sie werden untersucht, tauchen in der Gesamtstatistik der Polizeihochschule nicht auf. Wohl aber berücksichtigt das Zahlenwerk die Fälle, in denen ein Schuss unbeabsichtigt (fünfmal) ausgelöst wurde. In einem Fall hat sich ein Polizist das Leben genommen. Die Beamten dürfen die Waffen auch außerhalb des Dienstes tragen und zu Hause aufbewahren. Das wird in jedem Land anders geregelt. In Hessen sind Waffen in Zivilkleidung „verdeckt zu tragen“. Rheinland-Pfalz schreibt vor, mit der Uniform dann aber auch die Waffen zu tragen, so etwa auf dem Heimweg. Wenn die Eigensicherung in den Vordergrund rücke, sagt Malchow, sei der Waffeneinsatz gegen Menschen „zwar ein hartes, aber zulässiges Mittel.“