Berlin. Die Zahl der „Gefährder“ erreicht neue Rekorde. Trotz verstärkter Überwachung. 800 Islamisten aus Deutschland zogen in den Dschihad.

Die Zahl muss sinken. Darüber sind sich alle einig – Polizisten, Verfassungsschützer, Politiker, Sozialarbeiter. Aber die Zahl der Islamisten in Deutschland sinkt nicht. Sie steigt auf immer neue Rekordwerte. Derzeit agieren zwischen Flensburg und München 9200 sogenannte Salafisten. Sie sind eine radikale Minderheit der mehr als vier Millionen Muslime. Den Behörden gelten sie jedoch als Verfassungsfeinde. Wieder sind es 300 Personen mehr als noch Ende Juni – trotz Programmen zur Deradikalisierung, trotz Überwachung durch die Sicherheitsbehörden. Vor drei Jahren waren es 5500.

Mittlerweile gelten beim Bundeskriminalamt 522 Islamisten als „Gefährder“, ein Begriff der Polizei für Personen, die jederzeit schwere Straftaten begehen könnten, etwa Morde oder Anschläge. Auch dies ein Rekordwert. 95 von ihnen sind deutsche Konvertiten. Zum Vergleich: 18 „Gefährder“ gibt es im Bereich Rechtsextremismus, nur fünf Personen im Linksextremismus. Das teilte das BKA auf Nachfrage dieser Redaktion mit.

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    Und das zeigt das Bedrohungspotenzial der islamistischen Szene. Erst Dienstag nahmen 200 Polizisten bei einer Razzia bei Hamburg drei mutmaßliche Terroristen fest. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder des „Islamischen Staates“ zu sein. Sie sollen laut Generalbundesanwalt nach Deutschland gereist sein, um „entweder einen bereits erhaltenen Auftrag auszuführen oder sich für weitere Instruktionen bereitzuhalten“. Seit Mittwoch sitzen alle drei Syrer in Untersuchungshaft. Das BKA wertet Handys und Laptops aus.

    Geheimdienste beobachtet „Gefährder“

    „Das ungebremste Wachstum der Salafistenzahl vergrößert auch den Rekrutierungspool für Dschihadisten“, sagt Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen. Und es frisst Ressourcen: „Gefährder“ müssen durch Geheimdienste und Polizei observiert werden, Analysten müssen Propaganda auswerten, Sozialarbeiter, Schulen und Moscheen müssen sich dem Wachsen der Salafistenszene entgegenstellen. Der Staat stößt an seine Grenzen.

    William Labruyère von Interpol sagte auf einer Konferenz des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) in Brüssel, dass seine Behörde 2013 noch insgesamt 13 Profile von ausländischen Kämpfern in Syrien und Irak hatte. Heute sind es fast 8000. Aus Deutschland zogen mehr als 800 Islamisten in den Dschihad, rund 5000 aus der EU.

    Tatverdächtige monatelang überwacht

    Dass die Behörden die Grenzen der Belastbarkeit gehen, zeigt auch der aktuelle Fall der mutmaßlichen Terrorzelle bei Hamburg: Für das Innenministerium ist die Festnahme ein Erfolg. Doch der kostete Kraft: Mehrere Landesämter waren eingeschaltet, auch Bundesämter. Teilweise musste Personal aus anderen Fällen abgezogen werden. Über Monate wurde das Trio observiert, häufig 24 Stunden am Tag. Wer mit Sicherheitsleuten spricht, hört die Sorge: So ein Kraftakt ist nicht dauerhaft leistbar. Steigt die Zahl der „Gefährder“, wächst auch das Risiko, dass eine Zelle un­beobachtet bleibt – trotz der zusätzlichen Stellen bei Polizei und Verfassungsschutz.

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      Nach Informationen unserer Redaktion spielte für den Zeitpunkt des Zugriffs bei Hamburg auch der enorme Personalaufwand eine Rolle. Es kamen zuletzt kaum noch neue Erkenntnisse über die Terrorverdächtigen zusammen. Ein Warten hätte weiter die Einsatzkräfte gebunden – auch wenn dann vielleicht noch mehr Beweismittel zusammengekommen wären.

      Doch ist allen klar, dass Polizei und Geheimdienste im Kampf gegen Islamisten nicht ausreichen werden. Was lange fehlte, war ernsthafte Präventionsarbeit mit Jugendlichen. Staat und Zivilgesellschaft sind stark im Kampf gegen Rechtsextremisten, beim Islamismus fehlte lange Expertise. Vor allem Großbritannien hat aufgrund des Drucks durch die Szene früher reagiert. Sie gelten als Vorreiter in der EU.

      Islamisten radikalisieren sich im Netz

      In Deutschland aber seien Programme gegen Islamismus lange stiefmütterlich behandelt worden, beklagen Pädagogen, aber auch Kriminalpolizisten. Bund und Länder reagieren nun, bauen die Angebote für Jugendliche und Familien deutlich aus. Doch zwei neue Herausforderungen erschweren die Arbeit: Zum einen radikalisieren sich Islamisten zunehmend „virtuell“ – und nicht auf dem Schulhof oder in der Moschee.

      In Chaträumen und sozialen Netzwerken tauschen sich Islamisten aus, inspirieren sich – in Einzelfällen bis hin zur Anschlagsplanung. Das ist nur schwer zu überwachen, auch für Sozialarbeiter sind diese meist Jugendlichen nur mühsam zu erreichen. Zum anderen konnten sich Extremisten unter den Hunderttausenden von Geflüchteten 2015 gut tarnen. Wie der Fall bei Hamburg zeigt, nutzen Islamisten deren Routen. Die drei Terrorverdächtigen sind auf ihrem Weg von Syrien nach Europa mehrfach durch Grenzbeamte und Asylbehörden registriert worden.

      Lammert gegen Religion als Auswahlkriterium

      Das liefert neues Futter für den Streit über die Flüchtlingspolitik. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sprach von „eklatanten Kontrolllücken“. Seine CSU will Christen bei der Zuwanderung bevorzugen. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) stellt sich gegen diesen Vorschlag. Bei Menschen, die keine Flüchtlinge seien, dürften zwar Auswahlkriterien angewandt werden, sagte Lammert dieser Redaktion. Diese richteten sich „in der Regel aber nicht an Religionszugehörigkeit oder Abstammung aus bestimmten Kulturräumen“ aus, sondern an beruflicher Qualifikation. Bei Flüchtlingen, fügte Lammert hinzu, sei die Auswahl oder bevorzugte Behandlung einzelner Gruppen „schon aus völker- und verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich“. Die Beteiligung der Kirchen an der Asyldebatte bezeichnete Lammert als „ausdrücklich erwünscht“. Hohe Geistliche beider christlicher Kirchen in Deutschland hatten die jüngsten CSU-Vorschläge zur Begrenzung der Zuwanderung scharf kritisiert.