Berlin/Hamburg. Monatelang wurde eine mutmaßliche Terrorzelle nahe Hamburg überwacht. Warteten die als Flüchtlinge getarnten Männer auf IS-Befehle?

Mitte November erreichte Mahir al-H., noch ein Teenager, die Grenze von Deutschland. Im Gepäck hatte er jede Menge Dollarscheine, einen „höheren vierstelligen Betrag“, sagen die Sicherheitsbehörden. Auf seinem Handy waren Programme für eine verschlüsselte Kommunikation installiert. Mahir al-H. kam nicht allein aus Syrien, mit ihm erreichten auch Mohamed A. und Ibrahim M. die deutsche Grenze. Sie waren Kämpfer des selbst ernannten „Islamischen Staates“ (IS), getarnt als Flüchtlinge. Geld und Software kamen von der Terrororganisation. Und: Sie hatten einen Auftrag für einen Anschlag – oder zumindest warteten sie auf Anweisungen der IS-Funktionäre in Syrien. Davon jedenfalls geht die Generalstaatsanwaltschaft heute aus.

Am Montag, morgens um 4 Uhr, nahm die Polizei die drei Männer fest – in Unterkünften für Flüchtlinge und in Wohnungen in Ahrensburg, Großhansdorf und Reinfeld, alle Orte liegen nahe Hamburg, nur wenige Kilometer auseinander. Auch eine Razzia in Niedersachsen war Teil der Operation. 200 Polizisten waren beteiligt, Spezialkräfte der GSG9. Über Monate hatten Kriminalbeamte die drei mutmaßlichen Terrorverdächtigen observiert, ihre Handys überwacht. Jetzt schlugen sie zu.

Reisepässe waren gefälscht

Laut Innenminister Thomas de Maizière (CDU) könnte es sich um eine Schläferzelle des IS handeln. Und der Innenminister sieht auch Verbindungen zur Terrorgruppe, die im November 2015 bei mehreren zeitgleichen Attentaten 130 Menschen in Paris getötet hatten, fast 400 wurden verletzt. De Maizière sagte auf einer Pressekonferenz, es gebe Hinweise darauf, dass die drei nun festgenommenen Männer über dieselbe Schlepperorganisation nach Deutschland gekommen seien wie auch einzelne der Attentäter von Paris: über die Türkei mit einem Schleuserboot nach Griechenland, weiter über den Balkan in Richtung deutsche Grenze.

Es war die Route, auf der im Herbst 2015 Hunderttausende Menschen aus Syrien, Afghanistan und Irak in die EU geflohen waren – unkontrolliert quer durch Europa. Zudem spreche alles dafür, dass die gefälschten Reisedokumente der Verdächtigen aus „derselben Werkstatt“ stammten – also von denselben Fälschern von Dokumenten stammen, mit denen auch die Terroristen von Paris nach Europa gekommen waren.

Chaotische Asylpolitik ausgenutzt

Es ist eine der Strategien des IS: Mit sogenannten Hit-Teams wollen sie Dschihadisten ins Ausland einschleusen – damit sie dort zuschlagen können. Die chaotische Situation der EU-Asylpolitik im vergangenen Herbst und Winter sowie die Einreise von Schutzsuchenden über Griechenland bot Terroristen eine Gelegenheit, Kämpfer in Richtung Europa zu schmuggeln. Mehrere Attentäter der Anschläge von Paris sollen über die Balkanroute nach Frankreich eingereist sein. Experten sagen, dass Terroristen die Tarnung als Flüchtlinge auch gezielt nutzen, um Bürger in Europa gegen die muslimischen Migranten aufzuhetzen.

Oder warteten die nun festgenommenen mutmaßlichen Dschihadisten auf Befehle von IS-Funktionären? Auch das war zuletzt eine Strategie der Terroristen. Bei den Anschlägen von Ansbach und Würzburg in diesem Sommer sollen die beiden Attentäter mehrfach Kontakt zu mutmaßlichen Mitgliedern des „Islamischen Staats“ gehabt haben, und zwar über mehrere Telefonnummern, unter anderem in Saudi-Arabien.

Ausbildung beim „Islamischen Staat“

Die jetzt festgenommenen mutmaßlichen Islamisten waren jung, gerade mal 17, 18 und 26 Jahre alt. Spätestens im September soll sich Mahir al-H. in der syrischen IS-Hochburg Rakka der Terrororganisation angeschlossen haben, berichtet die Bundesanwaltschaft. Beim IS erhielt er demnach eine kurze Ausbildung – auch an Waffen und mit Sprengstoff. Al-H. soll sich dann gemeinsam mit den anderen beiden Beschuldigten gegenüber Funktionären des IS zu „Operationen und Anschlägen“ außerhalb des IS-Gebiets verpflichtet haben. Dann begann die Reise nach Europa. Ob es von hier Kontakte der Beschuldigten zum IS in Syrien gab, ist bisher nicht bekannt.

Keine konkreten Pläne für Anschläge

Dass sich Paris-Attentäter und die mutmaßlichen Islamisten aus Norddeutschland gekannt haben, ist ebenfalls unbekannt. Auch sind konkrete Informationen über Passfälscher und Schleuser bisher nicht öffentlich: Sind die Netzwerke Teil des IS – oder Kriminelle, die auch mit Terroristen Geschäfte machen? Auf den Routen zwischen Kriegsgebieten, der Türkei und EU agieren etliche Schleusergruppen. Dass Migranten gefälschte Pässe nutzen, um aus ihrer Not nach Europa zu fliehen, ist ein bekanntes Phänomen, auch abseits der Strategie des IS.

Zu den aktuellen Festnahmen bleiben einige Fragen offen. Klar ist offenbar nur: Konkrete Pläne für Anschläge in Deutschland gab es laut Polizei nicht. Verdächtigt werden sie der Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung. Der Zugriff ist nach Informationen dieser Zeitung auch deshalb jetzt erfolgt, weil die aufwendigen Überwachungen seit Längerem keine neuen Erkenntnisse gebracht haben sollen.

Hermann kritisiert „eklatante Kontrolllücken“

Die Sicherheitslage ist laut Innenminister insgesamt in Deutschland „unverändert ernst“. De Maizière sagt jedoch auch: Eine Gefahr ging von den drei Festgenommenen nicht aus – denn sie wurden rund um die Uhr überwacht. „Es musste nur der richtige Zeitpunkt ermittelt werden, damit auch ein Haftbefehl trägt“, so de Maizière.

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hat nach den Razzien in Norddeutschland erneut die deutsche Flüchtlingspolitik kritisiert. „Die eklatanten Kontrolllücken beim immensen Flüchtlingsstrom vor allem im Herbst letzten Jahres rächen sich“, sagte Herrmann unserer Redaktion. Tausende Menschen seien ohne ausreichend geprüfte Identität in unser Land gekommen. „Wir wissen mittlerweile, dass auch der IS diese Sicherheitslücken gezielt genutzt hat, um Attentäter als Flüchtlinge getarnt nach Europa zu schleusen“, sagte der bayerische Innenminister. Daher sei es dringend notwendig, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Asylverfahren möglichst schnell und sorgfältig die Personalien aller bereits eingereisten Asylbewerber eingehend überprüft.

Überwachungen dauerten Monate

Wie alarmiert die Behörden in dem Fall bei Hamburg waren, zeigen eben diese aufwendigen Ermittlungen. Das Bundeskriminalamt richtete eine Gruppe für das Trio ein – die „EG Galaxy“. Auch Kriminalämter in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hamburg wurden eingeschaltet. Der Verfassungsschutz soll wichtige Hinweise auf die drei Personen geliefert haben, möglicherweise in Zusammenarbeit mit einem ausländischen Nachrichtendienst. Monate dauerten die Überwachungen an, Zeugen wurden vernommen, Gesprächsprotokolle ausgewertet. Die Anstrengungen seien „enorm“ gewesen, sagt de Maizière nun. In den Unterkünften lebten die drei Syrer unauffällig, nahmen an Aktivitäten der Gemeinde teil, zum Beispiel dem Karpfenfest in Reinfeld, wie Recherchen dieser Redaktion zeigen.

Doch auch in Deutschland sollen sie sich „konspirativ“ verhalten haben, nutzten verschlüsselte Chats für ihre Kommunikation, wie diese Zeitung aus den Sicherheitsbehörden erfuhr. Laut ihrer Pässe stammen die Verdächtigen gebürtig aus Aleppo und Kuweires Sharqi. Schon beim Interview für ihren Antrag auf Asyl in Deutschland sollen die nun Festgenommenen den Mitarbeitern des BAMF aufgefallen sein: Sie verhielten sich verschlossen, fast provokant. Auch das erfuhr diese Redaktion.

Anschlag auf das EM-Fanfest?

Zeitweise befürchteten die Polizisten in Hamburg nach Informationen dieser Redaktion einen Anschlag auf das Fanfest während der Fußball-Europameisterschaft im Juni und Juli – ein prominentes und naheliegendes Ziel für eine mutmaßliche Terrorzelle. Ermittler aus der Hansestadt behielten genau im Blick, ob die Verdächtigen mit der Bahn aus den Vororten in die Stadt fahren würden, berichteten Kriminalbeamte. Doch es blieb ruhig.

Die drei Männer mit syrischen Pässen wurden nach ihrer Festnahme von Hamburg nach Karlsruhe geflogen. Ein Beschuldigter wurde noch am Dienstag beim Bundesgerichtshof (BGH) vorgeführt. Die beiden anderen Verdächtigen sollen am Mittwochmorgen gehört werden. Einen ähnlichen Fall hatte es vor wenigen Monaten gegeben. Anfang Juni hatte die Bundesanwaltschaft mehrere Syrer festnehmen lassen, die im Auftrag der IS-Führungsebene einen Anschlag auf die Düsseldorfer Altstadt geplant haben sollen. Einer von ihnen ist allerdings wieder auf freiem Fuß.

Fast täglich erreichen die Behörden Hinweise auf Geflüchtete, die Islamisten sein sollen oder für den IS arbeiten. Aktuell liegen dem BKA mehr als 400 Hinweise auf terrorverdächtige Flüchtlinge vor. Doch in den meisten Fällen ist an den Vorwürfen nichts dran, manchmal sind es gezielte Verleumdungen. In einigen Fällen wurden vermeintliche Beweisfotos gefälscht. Das erzählen Polizisten und Verfassungsschützer. Derzeit laufen 60 Ermittlungsverfahren – bei mehr als einer Million Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland kamen. Auch Innenminister de Maizière hob hervor: „Flüchtlinge dürfen nicht generell unter Terrorverdacht gestellt werden.“