Brüssel. Die EU gewährt der Ukraine, dem Kosovo und Georgien bald die Visafreiheit. Wahrscheinlich folgen Lockerungen auch bald für die Türkei.

Der Gast aus der Türkei gab sich ungewöhnlich samtpfötig. „Wir vergessen niemals, dass die Rechtsstaatlichkeit gelten soll“, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Mittwoch beim Besuch des Europarats in Straßburg. Und: „Jeder muss vor Gericht gebracht werden, auch diejenigen, die versucht haben, Präsident Recep Tayyip Erdogan umzubringen.“ Ein Plädoyer für rechtsstaatliche Verfahren – aus Ankara sind derlei Töne neu.

Der Europarat hat nichts mit der EU zu tun. Er verfügt über 47 Mitgliedsstaaten – unter anderem die Türkei – und setzt sich besonders für Demokratie und Menschenrechte ein. Dass Cavusoglu einen Abstecher nach Straßburg einlegte, wurde in der EU als Entspannungssignal gesehen. Die türkische Regierung pocht nämlich auf die Visafreiheit für Reisen in die EU. Ein Stolperstein hierfür ist aber bislang vor allem das Anti-Terror-Gesetz der Türkei.

Anti-Terror-Gesetz nach Putschversuch verstärkt eingesetzt

Dieses Gesetz fasst den Terrorbegriff sehr weit als Bedrohung für den Staat und die Regierung. Es enthält aber auch einen Hebel gegen Andersdenkende, die beliebig als „Terror-Unterstützer“ deklariert und ins Gefängnis gesteckt werden können. Die türkische Regierung machte insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch Mitte Juli davon Gebrauch: Oppositionelle, Journalisten und kurdische Politiker wurden massenhaft inhaftiert.

Trotzdem verbuchte der Europarat die Visite Cavusoglus als Erfolg. „Es zeigt, dass die Türkei bereit ist, in Fragen der Menschenrechte und Demokratie mit Europa zusammenzuarbeiten und die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte anzuerkennen“, sagte der Generalsekretär des Europarats, Thorbjorn Jagland.

Änderung des Anti-Terror-Gesetzes ist Voraussetzung für Visafreiheit

Diese Einschätzung ist neu. Vor dem Europäischen Menschengerichtshof haben die Türken in der Vergangenheit mehrere Verurteilungen wegen Verstößen gegen die Meinungsfreiheit einstecken müssen. Seit Längerem laufen zwischen beiden Seiten Gespräche, wie die Mängel behoben werden könnten. Die EU hofft, dass über den Europarat auch das sperrigste Hindernis auf dem Weg zur Visafreiheit abgeräumt werden kann: die Änderung des Anti-Terror-Gesetzes.

Brüsseler Insider gehen davon aus, dass sich trotz aller vorausgegangenen Unfreundlichkeiten und Drohungen beim Thema Visafreiheit eine Verständigung anbahnt. Diese wird allerdings etwas länger auf sich warten lassen als der zuletzt angepeilte Termin Oktober. „In puncto Terrorgesetzgebung brauchen wir noch etwas mehr Zeit für die Verhandlungen“, sagt Elmar Brok, der als Chef des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament vor zwei Wochen selbst in der Türkei war. Der Deal werde jedoch zustande kommen. „Die Türkei hat ein großes Interesse daran, dass sie die Visafreiheit kriegt. Sie weiß aber auch, dass sie alle 72 Vorbedingungen erfüllen muss.“

Noch fünf von 72 Vorbedingungen noch nicht erfüllt

Etwas schneller dürfte die Visafreiheit für drei weitere Bewerber kommen. Schon ab diesem Herbst werden vermutlich Ukrainer, Georgier und Kosovaren ohne Sichtvermerk, also gebührenfrei und ohne stundenlange Warterei vor überlaufenen Konsulaten, Freunde und Angehörige in Deutschland und anderen EU-Staaten besuchen können.

Die drei Länder sind einen Schritt weiter als die Türkei, die von den 72 Vorbedingungen (Benchmarks) fünf noch nicht erfüllen hat. Zwar gilt nur die Überarbeitung des Anti-Terror-Gesetzes als wirklich schwierig. Aber solange in diesem Punkt keine Einigung in Sicht ist, kann die EU-Kommission nicht den Verzicht auf Visa empfehlen und damit die förmliche Voraussetzung eines Beschlusses der Regierungen und des Parlaments liefern.

Kommissions-Empfehlung für Ukraine, Georgien und den Kosovo

Für die Ukraine, Georgien und den Kosovo hat die EU-Kommission diese Empfehlung schon vorgelegt. Im Falle des Kosovos allerdings unter dem Vorbehalt, dass die frühere serbische Provinz noch zwei offene Aufgaben erledigt: Das Parlament in Pristina muss ein Abkommen mit Montenegro über den Verlauf der gemeinsamen Grenze ratifizieren, und außerdem werden vorzeigbare Resultate beim Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität verlangt – eine Bedingung mit breitem Auslegungsspielraum.

Im EU-Parlament sind die Schlussberatungen auf Ausschussebene angelaufen. Dort wie auch beim Ministerrat, dem Gremium der Regierungen, rechnet man mit grünem Licht spätestens bis Jahresende. Parallel will man dem Risiko vorbeugen, dass sich die EU im Zuge der neuen Freiheit neue Probleme ins Haus holt – etwa durch unkontrollierbaren Zuzug von Migranten oder das Einsickern von Kriminellen und Terroristen. Auf Drängen vor allem der Bundesregierung wird mit einer neuen Notbremsenregelung die Handhabe geschaffen, im Falle eines Falles die Visafreiheit wieder auszusetzen.

Visafreie Besuchszeit gilt nur 90 Tage

Aus Sicht des EU-Außenpolitikers Brok sind die Sorgen ohnehin unbegründet. Weil der Verzicht auf den Sticker nur für biometrische (datenlesbare) Pässe gelte, werde die Sicherheit erhöht: „Wenn ein Türke an die Grenzkontrolle kommt, können wir sicher sein: Der ist auch Inhaber des Passes. Visapässe werden dagegen ständig gefälscht. Jetzt wissen wir, wer kommt, wo er ist, wohin er geht und wie lange er schon da ist.“ Die Daten stehen über das gemeinsame Schengen-Informationssystem allen Partnerländern zur Verfügung. Außerdem sind die Türkei und die anderen vom Visum befreiten Länder zur Rücknahme aller ihrer Bürger verpflichtet, die ihre touristische Besuchszeit von 90 Tagen überschreiten.