Berlin. Die Nichtwähler sind zurück – aber sie wählen den Protest. Auch in Mecklenburg-Vorpommern. Es ist Zeit zu Handeln. Ein Kommentar.

Wieder einmal hat die AfD bei einer Landtagswahl die Parteienlandschaft durcheinandergewirbelt. Und wieder einmal verdanken die Rechtspopulisten ihre Stärke allen voran denjenigen, die bei früheren Landtagswahlen noch zu Hause geblieben waren. Die Nichtwähler sind zurück – aber sie wählen den Protest.

Darüber werden sich die anderen Parteien ihre Gedanken machen müssen. Denn spätestens seit dem Wahlsonntag in Mecklenburg-Vorpommern kann man von einem Trend sprechen. Bereits bei den Landtagswahlen im März waren die Wahlbeteiligungen signifikant gestiegen. In Baden-Württemberg gaben sogar so viele Menschen wie seit den 80er-Jahren nicht mehr ihre Stimme ab.

Viele Parteien haben Nichtwähler nicht im Blick

Die Demokratie funktioniert also, ihre Rituale und Instrumente werden akzeptiert. Die Verweigerer werden weniger. Das ist die gute Botschaft. Die schlechte: Größter Profiteur dieser Entwicklung in Ost und West ist die AfD, jene Partei, die nun wahrlich keine intelligenten Antworten auf die Fragen dieser Zeit hat.

Aber haben die anderen Parteien intelligente Antworten? Warum gelingt es ihnen nicht in gleicher Weise, die vermeintlich Verdrossenen zurückzugewinnen? Weil sie noch immer zu sehr um die Stimmen der Wähler kämpfen, aber nicht um die der Nichtwähler. Diese leben laut Politikwissenschaftlern vornehmlich in sozialen Brennpunkten, sie sind eher jung und politisch desinteressiert. Diese Menschen nehmen Politik als etwas wahr, was mit ihrem Leben nichts zu tun hat. Sie bezweifeln, dass von Wahlen Veränderungen ausgehen können.

Wahlzettel wird zum Denkzettel

In einer vor wenigen Monaten veröffentlichten Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung erklärten Nichtwähler, für sie seien Politiker eigentlich nur Wahlkämpfer, die alle paar Jahre auftauchen, Luftballons und Bratwürstchen verteilen ­­– und dann wieder verschwinden.

In dieser Bevölkerungsschicht gelingt der AfD die Mobilisierung. Sie kann Nichtwähler davon überzeugen, den Wahlzettel in einen Denkzettel für die etablierten Parteien umzuwidmen. Aus Wahlverweigerung wird so zumindest die manifestierte Verweigerung des politischen Grundkonsenses, auf den sich das alte Parteienspektrum geeinigt hat. Nichtwähler, auch das haben Demokratieforscher herausgefunden, reagieren auf emotionale, auch populistische Ansprache. So wird der Erfolg der AfD zwar ein Stück weit erklärbar, aber zugleich das Versagen der Etablierten sichtbar.

„Raus ins Leben“

Die Verweigerer zurückzugewinnen, ist die Aufgabe aller Akteure. Auch, weil die Höhe der Wahlbeteiligung tatsächlich über Koalitionen und Mehrheiten entscheiden kann. Allen Bevölkerungsschichten die Politik so zu erklären, dass sie auch verstanden wird, sollte der selbstverständliche Grundauftrag jedes Politikers sein. Ihr Handeln an den Haustüren zu erklären, kann nicht nur in Wahlkampfzeiten zur Aufgabenbeschreibung von Mandatsträgern gehören.

Schon 2009 bei seiner Bewerbung um den SPD-Vorsitz sprach Sigmar Gabriel in der vielleicht besten Rede seiner Karriere den Sozialdemokraten ins Gewissen: Man dürfe sich nicht zurückziehen in die Vorstandsetagen, in die Sitzungsräume, warnte er. So wirke Politik aseptisch, klinisch rein, durchgestylt, synthetisch. Nein, man müsse raus ins Leben, wo es laut sei, wo es brodele, wo es manchmal rieche, gelegentlich auch stinke. Gabriel sagte damals auch: „Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist. Weil nur da, wo es anstrengend ist, da ist das Leben.“

Den damaligen Appell dürfen sich alle Parteien zu Herzen nehmen, jetzt erst recht.