Wie mich die Nacht am Budapester Keleti-Bahnhof veränderte
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Von Leon Scherfig
Berlin. Tausende Flüchtlinge campierten vor einem Jahr in Budapest. Dann zogen sie los. Unser Reporter hat diese historische Nacht erlebt.
Die Behauptung, dass ein Ereignis die Zeit in ein Davor und ein Danach teilt, sagt und schreibt sich leicht. Durch die Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 habe ich zumindest eine Ahnung davon bekommen, was dieser Satz für Menschen bedeuten kann. Es ist die Nacht, in der sich Tausende Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und anderswo vom Budapester Bahnhof aus auf den Weg nach Österreich machen.
Sie hatten am Keleti-Bahnhof seit Tagen campiert und gehofft. Dann setzte sich ein Treck von Flüchtlingen zu Fuß in Bewegung, aus Verzweiflung – und Bundeskanzlerin Merkel ließ als Reaktion darauf die Grenzen offen. Diese Nacht gilt seither als historisch, sie hat die große Politik verändert. Und auch meinen Blick auf die Krise.
Parallelwelt aus Müll, Menschen und Gestank
Es waren einige Reporter dort in Budapest, ich war nicht der einzige. Jeder versuchte eine gute Geschichte mitzubringen, das besondere Bild zu machen, Gesprächspartner zu finden. Viele versuchten erst einmal mit Reporterroutine die Nacht zu begreifen. Langsam stellte sich eine leise Ahnung ein, dass das hier mehr ist als ein normaler Einsatz. Dass hier Menschen mitten in Budapest, um ihr Überleben kämpften.
Vorher war die Flüchtlingskrise abstrakt, irgendwie theoretisch, herangetragen aus der Ferne über Nachrichtenportale und das Fernsehen. Budapest machte die Not für mich greifbarer. Es waren Bilder, Gerüche und Eindrücke, die mich im Hotel nicht mehr losließen.
Der Uringestank in einigen Ecken des Keleti-Bahnhofs war nur schwer zu ertragen, Hunderte – vielleicht Tausende – hatten sich im Untergrund des Ostbahnhofs in dreckige Decken gehüllt; eine Parallelwelt aus Müll, Menschen und Gestank. Wenn Menschen so etwas auf sich nehmen, haben sie einen guten Grund dafür.
Weder Helfer noch Ärzte am Ort
Wer mit einem journalistischen Auftrag an einen solchen Ort gelangt, hat immer eine Brille auf, durch die er die Umgebung wahrnimmt: Wo ist die Geschichte, wer ist der Protagonist? Welches ist der menschliche Aspekt der Story?
Menschlichkeit aber fehlte an diesem Ort. Einerseits weil der Staat nicht half, weder Ärzte noch Helfer schickte und stattdessen die Geflüchteten sich selbst überließ.
Andererseits wegen des Verhaltens der Flüchtlinge selbst. Die Verzweiflung entriss den Menschen die Würde, ein Stück ihrer Menschlichkeit: Als einer der wenigen Ehrenamtlichen in dieser Nacht mit Wasserflaschen und Plastiktüten voller Fladenbrote einen der Zugänge in den Untergrund erreichte, stürzte die Masse auf ihn los, trampelte über Rucksäcke, Isomatten und die wenigen Habseligkeiten, die auf dem Boden lagen.
Rufe, Schreie und Gerangel
Ich verfolgte das aus wenigen Metern Entfernung mit einer Mischung aus Neugier und Alarmbereitschaft, um nicht zu tief in das Gerangel hineinzugeraten. Eine wilde Menge fiel über die wenigen Lebensmittel her. Es war laut, Rufe, Schreie, es hallte in der Bahnhofsunterführung. Das war wohl die schauerlichste Erfahrung für mich in diesen Stunden: Das Verhalten dieser Verzweifelten hatte etwas Animalisches. Sie wirkten fast wie Tiere. Und ich schämte mich für diesen Gedanken.
Die Krise zerpflückte zivilisatorische Standards. Was fühlt ein Mensch, den die blinde Angst vor dem Verhungern steuert? Und was bleibt ihm – außer weiterzuziehen?
So sehen die Flüchtlingsrouten heute aus
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Nur wenige Stunden später, am Sonntagmorgen, hatte sich die Situation komplett gedreht. Viele hunderte Menschen waren noch in der Nacht mit Bussen in Richtung Österreich aufgebrochen. Der Bahnhofsbereich leerte sich mehr und mehr. Zurück blieben nur einige Dutzend Menschen, die sich erst später auf den Weg machen wollten.
Zurück blieb auch viel Dreck. Mitarbeiter der Stadtreinigung in Leuchtwesten säuberten die Böden, mit Hochdruckreinigern wuschen sie Essensreste, Plastiktüten und Pizzakartons vom Asphalt. So als sei nichts passiert, an diesem Ort.
Erinnerungen verblassen
In den ersten Wochen nach meiner Rückkehr habe ich häufig an den Keleti-Bahnhof zurückgedacht. Die Eindrücke waren wirkungsvoller als jedes Video und Foto, das mir im Netz begegnet.
Diese Erinnerungen verblassen langsam. Ich mache mir Gedanken, wie wir das in Deutschland mit der Integration schaffen, ob es weitere Attentate geben wird und was wir heute übersehen können, was sich später rächt.
Aber vor allem lässt mich die Nacht in Budapest nicht vergessen, was die Flüchtlingskrise im Kern ist: eine menschliche Katastrophe.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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