Berlin. Mehr als eine halbe Million Deutsche gelten als internetsüchtig. Die Bundesregierung erwartet eine starke Zunahme und will gegenlenken.

Sie sitzen nächtelang am Computer, tauchen in digitale Parallelwelten ab, kleben am Smartphone und können Tage ohne Netz nicht ertragen: Mehr als eine halbe Million Menschen gelten in Deutschland als internetabhängig, jeder Zwanzigste ist gefährdet. Experten fürchten, dass die Zahl der Onlinesüchtigen noch massiv anwachsen wird. Doch woran erkennt man, wo der selbstbestimmte Spaß endet und wo die Sucht anfängt? Mit einem neuen Angebot versuchen Suchtexperten, gefährdeten Menschen und ihren Angehörigen zu helfen – per Selbsttest und Onlineberatung im Videochat.

„Fühlen Sie sich ruhelos, gereizt, launisch, wütend, ängstlich oder traurig, wenn Sie versuchen, weniger oder gar nicht online zu sein oder wenn Sie keine Möglichkeit haben, ins Internet zu gehen?“ Schon an den ersten Fragen des Selbsttests wird sichtbar: Onlinesucht ist kein Phänomen mehr, das nur ein paar zurückgezogene Teenager betrifft.

Mortler: Es ist kein Randphänomen

„Das Problem hat die Mitte der Gesellschaft erreicht“, sagt die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler. Die CSU-Politikerin warnt davor, Internet-und Onlinesucht „als Randphänomen“ zu betrachten. „Deutschlandweit gelten bereits mehr als eine halbe Million Menschen als internetabhängig und wir müssen davon ausgehen, dass diese Zahlen zukünftig deutlich ansteigen werden“, sagte Mortler unserer Redaktion.

Am Montag wird auf der bereits bestehenden Seite onlinesucht-ambulanz.de die Webcam-basierte Beratung der Onlineambulanz Oasis freigeschaltet. Das Angebot wird von der Bundesregierung gefördert und bietet eine Erstdiagnostik für Betroffene und Angehörige: Wer den Selbsttest auf der Website gemacht hat, kann mit den Experten der Universität Bochum über das Ergebnis sprechen. „Wir holen die Internetabhängigen dort ab, wo ihre Sucht entstanden ist, und bauen ihnen eine digitale Brücke für eine analoge Beratung“, erläutert Bert te Wildt, Psychiater und Psychotherapeut an der Uni Bochum.

Jeder 20. gilt als gefährdet

Laut Studien ist rund ein Prozent der 14- bis 64-Jährigen in Deutschland internetabhängig. Jeder Zwanzigste (rund fünf Prozent) gilt als problematischer Internetnutzer und damit zumindest als suchtgefährdet. Jugendliche und junge Erwachsene sind häufiger betroffen als Ältere: In der Altersgruppe zwischen 14 und 24 Jahren gelten 2,4 Prozent als internetabhängig und jeder Siebte (13,6 Prozent) als problematischer Nutzer.

Insgesamt sind Männer und Frauen fast gleichermaßen von Internetabhängigkeit betroffen. Sie unterscheiden sich aber in dem, was sie im Netz machen: Männer findet man eher bei den Computerspielen, Frauen verlieren eher bei sozialen Medien die Kontrolle. Von einer „Sucht“ im klinischen Sinn sprechen Experten, wenn mehrere Beeinträchtigungen zeitgleich und über eine gewisse Dauer vorliegen: Wer Familie und Freunde vernachlässigt, wer keine digitalen Pausen erträgt, wer keine anderen (analogen) Hobbys mehr kennt, der gilt als zumindest suchtgefährdet.

Avatar wichtiger als eigenes Leben

„Die Folgen für die Betroffenen sind gravierend“, sagt Mortler. „Junge Männer denken an nichts anderes mehr als ihr Rollenspiel im Internet. Der Avatar wird wichtiger als das eigene, reale Leben, die Sozialkontakte, Beruf oder Ausbildung. Selbst die Körperpflege bleibt auf der Strecke.“

Die Drogenbeauftragte will die Medienkompetenz bei Eltern und Lehrern stärken und zusammen mit den Ländern die Beratungs- und Behandlungsangebote ausbauen. Erwachsene müssten aber auch ihr eigenes Verhalten kontrollieren: „Wenn der Vater oder die Mutter beim Abendessen mit der Familie das Smartphone nicht mehr aus der Hand legen kann oder die Wochenenden vor dem Tablet verbringt, leidet nicht nur das Miteinander. Dieses Verhalten schafft auch ein falsches Vorbild für den eigenen Nachwuchs.“

Grüne fordern besseren Suchtschutz im Netz

Prüfen will Mortler darüber hinaus, ob der Jugendschutz an die Herausforderungen der Internetabhängigkeit angepasst werden müsse und wie die global tätigen Spieleanbieter für Schutzmaßnahmen zu gewinnen seien. „Die Lösung kann man nicht einfach per Gesetz verordnen.“

Die Grünen sehen das anders: Die Hersteller müssten stärker in die Verantwortung genommen werden, sagte der suchtpolitische Sprecher der Grünen, Harald Terpe, dieser Zeitung: „Regelungen zu verpflichtenden Warnhinweisen über das Suchtpotenzial eines Spiels, Spieldauereinblendungen und automatische Spielpausen, die in das Spiel integriert sind, muss die Bundesregierung in Angriff nehmen“, forderte der Grünen-Politiker. In sozialen Netzwerken und Chats sollte eine unkomplizierte und endgültige Abmeldung ermöglicht werden. „Frau Mortler macht es sich etwas leicht, wenn sie sagt, sie könne nicht mehr tun.“