Brüssel/Berlin. Wochenlang wurde Kritik an der Türkei laut. Nun gehen EU-Parlamentspräsident Schulz und Nato-Chef Stoltenberg in die Charme-Offensive.

Es hatte scharfe Kritik aus dem Westen an der türkischen Regierung gehagelt – über Wochen. Mal war es die Verhaftungswelle nach dem gescheiterten Putschversuch Mitte Juli, die gegeißelt wurde. Mal stieß die brachiale Militäroffensive der Türken gegen kurdische Stellungen in Nordsyrien auf heftigen Widerspruch. Am schrillsten waren die Rufe aus Österreich, die den sofortigen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen forderten.

Vergangenheit. Neuerdings starten Spitzenvertreter der Nato und der EU einen wahren Pilgermarathon Richtung Ankara. Präsident Recep Tayyip Erdogan, der Buhmann von gestern, wird plötzlich als unverzichtbarer Bündnispartner hofiert.

Schulz äußert Bewunderung für Demonstranten

Selbst der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz (SPD), gibt sich auf einmal samtpfötig. Als erster Brüsseler Spitzenpolitiker seit dem gescheiterten Putsch besuchte er am Donnerstag die Türkei. „Wir sind voller Bewunderung für die Menschen, die wild entschlossen gegen die brutale Militär-Gang auf die Straße gegangen sind und die Würde der Türkei verteidigt haben“, erklärte er, als er vom Gouverneur von Ankara am Flughafen empfangen wurde. Bereits im Flugzeug hatte er gegenüber mitreisenden Journalisten betont: „Wir üben uneingeschränkte Solidarität mit der Türkei, mit dem türkischen Volk zur Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.“

Später traf Schulz mit Präsident Erdogan, Ministerpräsident Binali Yildirim und Parlamentspräsident Ismail Kahraman zusammen. Dabei ging es um die Zukunft des Flüchtlingsabkommens, die Visafreiheit für türkische Staatsbürger in der EU und die Zukunft der Beitrittsverhandlungen.

Charme-Offensive soll Schaden reparieren

Nach massiven Vorwürfen der türkischen Regierung, Europa habe sich nach dem Putschversuch nicht solidarisch gezeigt, will sich Schulz nun um eine vertrauensvolle Gesprächsbasis bemühen. Dabei gehörte der EU-Parlamentarier bis vor Kurzem noch zu den schärfsten Kritikern Erdogans. Noch im Mai hatte er dem starken Mann in Ankara vorgeworfen, eine „Ein-Mann-Herrschaft“ zementieren zu wollen.

Seit sich Erdogan vor drei Wochen demonstrativ mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgesöhnt hatte, dämmerte den Europäern, dass ihre herbe Reaktion auf den Putsch nicht nur die Gefolgschaft von Erdogans Partei AKP vergrätzte. Nun soll eine diplomatische Charmeoffensive den Schaden reparieren.

Stoltenberg: „Im Geist voller Solidarität“

Auch das westliche Verteidigungsbündnis, die Nato, schlägt versöhnliche Töne an: „Die Türkei ist ein geschätzter Nato-Verbündeter, der an vorderster Front gegen die Terrormiliz ‚Islamischer Staat‘ (IS) kämpft und eine Grenze zu einer höchst instabilen Lage im Süden hat“, sagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg unserer Redaktion. Die Nato stehe „im Geist voller Solidarität“ an der Seite der Türkei. Und „Es ist unbedingt notwendig, dass wir im Kampf gegen den IS, unseren gemeinsamen Feind, zusammenstehen.“ Stoltenberg wird am 8. September in die Türkei reisen und in Ankara auch mit Präsident Recep Tayyip Erdogan zusammentreffen. An diesem Freitag spricht der Nato-Chef in Berlin mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen.

Er habe den Putschversuch in der Türkei Mitte Juli sofort und mit deutlichen Worten verurteilt, betont Stoltenberg. „Ich habe ferner die Stärke und Tapferkeit des türkischen Volkes begrüßt, sich für die Unterstützung seiner Demokratie einzusetzen.“

US-Vizepräsident Biden gab Startschuss für Annäherung

Den Startschuss für die neue Annäherung gab vorige Woche US-Vizepräsident Joe Biden, der sich „zerknirscht“ zeigte, weil er mit seiner Türkeivisite so spät dran sei. Es folgte eine Delegation des EU-Parlaments, mit dem Chef des Außenausschusses Elmar Brok. In der nächsten Woche sind die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn angesagt. Zudem haben die EU-Außenminister zu ihrem Treffen im slowakischen Bratislava an diesem Wochenende den türkischen Europaminister Ömer Celik eingeladen.

EVP-Chef Weber für Ende der EU-Beitrittsverhandlungen

Es ist eine Gratwanderung der Europäer. Die Leitlinie: Die Kritik an Erdogans autoritärem Kurs darf nicht verstummen, sie soll aber nicht die Tonlage beherrschen. Allerdings halten sich nicht alle daran. So sprach sich der Chef der EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber (CSU), für ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen aus. Auch der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff warnte vor zu viel Kuschelkurs: „Man darf kein Benzin ins Feuer gießen, aber man darf auch nicht so tun, als ob es kein Feuer gebe.“

Nato-Generalsekretär Stoltenberg federt die neue Solidaritätswelle zumindest mit mahnenden Worten ab. Im Umgang mit innenpolitischen Gegnern solle Ankara maßvoll agieren, unterstreicht er. „Es ist absolut entscheidend, dass bei der strafrechtlichen Verfolgung der Urheber des gescheiterten Putsches die Prinzipien des Rechtsstaates und grundlegende Menschenrechte gewahrt werden.“

Nato-Offiziere unter Putschisten?

Zuvor hatte die Nato bekräftigt: Die Türkei, die über den zweitgrößten Militärapparat des Bündnisses verfügt, sei und bleibe Mitglied der Allianz. Ansonsten erwarten die Partner auf der nächsten Sitzung des Nordatlantischen Rates näheren Aufschluss über die Hintergründe des Putsches. Die Neugier gilt vor allem der Beteiligung des türkischen Militärs. Einschließlich der spannenden Frage, ob womöglich türkische Nato-Offiziere unter den Aufständischen waren. „Es sind noch nicht alle wieder hier“, heißt es in Brüsseler Nato-Kreisen, „aber die Sommerpause geht ja gerade erst zu Ende.“