Berlin. Mit seinem Vorstoß gegen das Freihandelsabkommen provoziert SPD-Chef Sigmar Gabriel die Amerikaner und elektrisiert die eigene Basis.

Es war wieder einmal ein echter Gabriel. Mitten in die trans­atlantische Harmoniephase – bei der Hannover Messe Ende April hatte US-Präsident Barack Obama Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) noch mit Lob überschüttet – platzt nun der Keulenschlag. Das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen TTIP sei „de facto“ gescheitert, wetterte der Wirtschaftsminister, Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel.

Ein Durchbruch in den Verhandlungen sei „reine Fiktion“, stichelte er, „es sei denn, man will sich den Amerikanern unterwerfen“. Eine Art verbaler Todesstoß für das Abkommen, das mit 800 Millionen Verbrauchern den weltgrößten Wirtschaftsraum schaffen würde.

Angst vor milliardenschweren Schadenersatzklagen

Dass es in den seit 2013 andauernden Gesprächen zwischen Brüssel und
Washington hakt, ist bekannt. So sperren sich die USA bislang gegen internationale Handelsgerichtshöfe. TTIP-Kritiker befürchten, dass Konzerne Staaten vor privaten Schiedsgerichten mit milliardenschweren Schadenersatzklagen überziehen könnten.

Doch Gabriel hat keinen skeptischen Einwand platziert, sondern seine Formulierung mit einer antiamerikanischen Spitze versehen. TTIP ist bei vielen Bundesbürgern unpopulär. Im September finden Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin statt. Die Umfragewerte für die SPD sind eher dürftig. Ein Aufregerthema kommt da gerade recht.

Weißes Haus zeigt sich verwundert

Für die Obama-Regierung war Gabriels Vorstoß ein Stich ins Wespennest. „Man bemisst Fortschritt nicht danach, wie viele Verhandlungskapitel geschlossen wurden, sondern ob beide Seiten Lösungen in allen Fragen finden können“, kritisierte der US-Handelsbeauftragte Michael Froman den SPD-Vorsitzenden im „Spiegel“. Und: „Es liegt in der Natur von Handelsgesprächen, dass nichts vereinbart ist, bis alles vereinbart ist.“ Mitte September will Froman erneut nach Brüssel reisen. Man hoffe noch auf einen Abschluss in diesem Jahr, sekundierte der Sprecher des Weißen Hauses.

Merkel kommt die TTIP-Provokation des Koalitionspartners ungelegen. Die Bundesregierung halte an dem Freihandelsabkommen fest, beschwichtigte Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU). Die Gespräche dürften zwar auf den letzten Metern schwierig werden. „Aber ich glaube, dass wir es schaffen können. Und wir wollen es schaffen“, bekräftigte der Merkel-Vertraute. Deutlicher wurde Unionsfraktionschef Volker Kauder. Dass sich Gabriel nicht mit aller Kraft für TTIP einsetze, sei eine „Enttäuschung“.

Ramsauer gegen Abschluss um jeden Preis

Schützenhilfe bekam Gabriel dagegen vom Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses im Bundestag, Peter Ramsauer (CSU). Ein Abschluss dürfe „nicht auf Biegen und Brechen erzwungen werden“, sagte Ramsauer dieser Redaktion. Es sei „pure Illusion zu glauben, beim derzeitigen Verhandlungsstand sei ein Abschluss der Verhandlungen noch in diesem Jahr möglich“, betonte der frühere Verkehrsminister. Insofern habe Gabriel recht. Dennoch müsse beharrlich weiterverhandelt werden.

Letzteres fordert auch die Wirtschaft. „Es ist Aufgabe der gesamten Bundesregierung, sich für die TTIP-Verhandlungen starkzumachen. Das muss sie mit vollem Einsatz tun“, sagte der Präsident des Industrieverbandes BDI, Ulrich Grillo, unserer Redaktion. Dass die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen seien, sei „nicht nur den USA anzulasten“.

Arbeitgeber warnen vor einem Desaster

Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer rügte den SPD-Chef: „Was wir im Moment erleben, ist ein Desaster für die Wirtschaftspolitik.“ Es sei eine alte Erfahrung, dass man bei internationalen Verträgen Geduld brauche. Die Firmen setzen große Hoffnungen auf TTIP. Ihr Wunsch: niedrigere Zölle und eine Angleichung von Standards für Produkte und Verfahren. Das Ifo Institut sagt allein für Deutschland 110.000 neue Jobs voraus.

Die Grünen und die Linkspartei halten das für eine Milchmädchenrechnung. Sie lehnen sowohl TTIP als auch Ceta, das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, ab. Nutznießer seien in beiden Fällen die Konzerne, auf der Strecke blieben der europäische Umwelt- und Verbraucherschutz, lautet ihr Vorwurf.

SPD entscheidet am 19. September über Ceta

Am Mittwoch reichte die Initiative „Nein zu Ceta“ ihre von mehr als 125.000 Menschen getragene Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Für Gabriel ist Ceta hingegen ein positives Gegenmodell zu TTIP. Dabei verweist er auf Nachbesserungen, die die kanadische Regierung akzeptiert habe – etwa die Zustimmung zu öffentlich-rechtlichen Handelsgerichten.

Am 19. September soll ein SPD-Parteikonvent über Ceta entscheiden. Aus der Parteilinken und aus Gewerkschaftszirkeln kommt Widerstand. Gabriels Marschroute: Er läuft Sturm gegen TTIP, um bei der eigenen Basis zumindest Ceta zu retten. Dass er lange Zeit für einen TTIP-freundlichen Kurs geworben hatte, kümmert ihn heute wenig. Die neueste Volte wird nicht die letzte Drehung des SPD-Vorsitzenden gewesen sein.