Berlin/Ankara. Die Analyse des BND, die die Türkei als „zentrale Aktionsplattform“ für Islamisten einstuft, setzt die Bundesregierung unter Druck.

Die Bundeskanzlerin versuchte noch zu beschwichtigen, aber es war zu spät: „Die Türkei ist ein wichtiger Partner im Kampf gegen den IS“, ließ Angela Merkel ihren Regierungssprecher ausrichten, „die enge Zusammenarbeit mit der Türkei ist wichtig.“ Doch da war die Empörung der Regierung in Ankara über die Einstufung des Landes als „zentrale Aktionsplattform“ für Islamisten längst hochgekocht. Das türkische Außenministerium wertete die vertrauliche Analyse des Bundesnachrichtendienstes (BND) als Ausdruck einer „verdrehten Mentalität“ mit der Präsident Recep Tayyip Erdogan angegriffen und das Land zermürbt werden solle. Die Regierung verlange von den deutschen Instanzen Aufklärung.

Keine Frage, die ungewohnt deutliche Kritik aus Berlin an der Rolle der Türkei im Anti-Terror-Kampf wird die deutsch-türkischen Beziehungen weiter belasten. Zumal sich die Bundesregierung nicht in der Lage sieht, die Vorwürfe in der Sache aus dem Weg zu räumen. Wie auch? Die Analyse des Auslandsgeheimdienstes, die das Innenministerium in Auszügen an den Bundestag weitergab, gilt Experten als belastbar und zuverlässig. Der BND hat die Türkei seit vielen Jahren im Visier, Deutschland lässt den Nato-Partner als „Kernland“ der BND-Beobachtung ausspähen, auch mit Abhörmaßnahmen.

Lange wurde das mit Drogenschmuggel oder Menschenhandel begründet, den Aktivitäten der PKK und später mit der Nähe zu den Kriegsgebieten des Irak und Syrien – seit der Stationierung deutscher Soldaten in der Türkei, auf dem Luftwaffenstützpunkt Incilik, gibt es aber auch eine militärische Begründung für die deutsche Spionage.

Zahlreiche Muslimbrüder haben Asyl in der Türkei

Umso brisanter das Lagebild, das die Bundesregierung nun den Bundestagabgeordneten vertraulich zur Verfügung stellt: Seit 2011 entwickele sich die Türkei zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens. Im Blick hat der deutsche Auslandsgeheimdienst zum einen die Unterstützung der Türkei für die radikalislamische Hamas, die der Westen als Terrorgruppe einstuft. Vor zwei Jahren durfte die Hamas sogar ihr politisches Hauptquartier von Damaskus nach Istanbul verlegen.

Hamas-Anführer Chalid Maschal wurde erst Ende Juni von Staatspräsident Erdogan empfangen. Der BND sieht zugleich enge Kontakte und eine „ideologische Affinität“ Erdogans und der Regierungspartei AKP zu den Muslimbrüdern. Erdogan hat in den letzten Jahren alles daran gesetzt, die Muslimbruderschaft als weltweite Organisation zu fördern, entsprechend groß ist die politische Unterstützung. Zahlreiche ägyptische Muslimführer haben in der Türkei Exil gefunden, von dort betreiben sie nach BND-Angaben Propagandaaktionen gegen die ägyptische Regierung.

Unterstützung für bewaffnete islamistische Gruppen in Syrien

Der Bericht verweist auch auf die Unterstützung der Türkei für die bewaffneten islamistischen Gruppen in Syrien. Wie weit die Hilfe für die Dschihadisten geht, bleibt allerdings offen: Seit Jahren wird der Regierung in Ankara vorgeworfen, sie dulde Waffen und Lebensmittellieferungen vor allem an die dschihadistische Al-Nusra-Front. Erdogan hat erst kürzlich erklärt, angesichts ihrer Rolle in Syrien solle diese frühere Al-Qaida-Gruppe nicht als Terrororganisation eingestuft werden. Deutsche Sicherheitsbehörden beklagen auch seit Jahren, die Türkei habe es Dschihadisten aus Deutschland zu leicht gemacht, Syrien und den Irak zu erreichen. „Die Zusammenarbeit mit der Türkei ist nicht einfach“, heißt es in Sicherheitskreisen. Denn Erdogan hat offenbar alles daran gesetzt, den Sturz von Syriens Machthaber Baschar al-Assad zu fördern – dafür öffnete er gern islamistischen Kämpfern aus aller Welt die Tore ins Nachbarland Syrien und ließ auch zu, dass Geld, Waffen und Lebensmittel über die Grenze geschmuggelt wurden.

Erdogan hat aber stets alle Vorwürfe zurückgewiesen, er unterstütze die Terrormiliz IS. In der BND-Analyse wird ein solcher Verdacht jedenfalls nicht ausdrücklich geäußert. Doch der CSU-Außenpolitiker Hans-Peter Uhl sagt, die Türkei bestreite zwar Hilfe für den IS. Aber: „Es gibt nachrichtendienstliche Erkenntnisse, die teilweise anders aussehen.“ Seit die Türkei selbst wiederholt zum Ziel von IS-Anschlägen geworden ist, steuert Erdogan allerdings wohl einen härteren Kurs gegen die Terrormiliz. Die Bundesregierung beschwört deshalb offiziell weiterhin die „enge Zusammenarbeit“ mit der Türkei im Anti-Terror-Kampf. Doch heißt es mit Blick auf die BND-Analyse, die Sicherheitsbehörden seien bei der Kooperation „nicht naiv“ – es ist klar, wo die Grenzen des Vertrauens liegen. Ähnlich äußern sich auch Sicherheitsexperten und Außenpolitiker im Bundestag. Der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach etwa meint, die Einschätzung des Auslandsgeheimdienstes sei nicht völlig neu – interessant sei aber, dass die Bundesregierung die Dinge nun klar beim Namen nenne.

Folge eines „Büroversehens“

Das allerdings ist nach Darstellung der Regierung nur Folge eines „Büroversehens“. Das Innenministerium erklärte am Dienstag, ein Sachbearbeiter des Ressorts, der für die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Linke-Fraktion zuständig war, habe versehentlich die erforderliche Stellungnahme des Auswärtigen Amtes nicht eingeholt. Das Haus von Minister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hätte wohl Bedenken dagegen angemeldet, die BND-Analyse unkommentiert ans Parlament zu überweisen – und so zur Position der Regierung zu machen. Steinmeier ging am Mittwoch auf Distanz zu der Analyse und ließ erklären, die Aussagen würden „in dieser Pauschalität“ nicht geteilt. Das Innenministerium lehnte eine Bewertung der umstrittenen Passagen indes ab – es hielt sie immerhin für so brisant, dass es sie zur „Verschlusssache“ erklärte.

Die Verstimmung zwischen den Ministerien scheint ausgeräumt. Im Bundestag kursiert aber der Verdacht, das „Büroversehen“ sei ein Vorwand, um die Einschätzung des Geheimdienstes im Parlament zu lancieren. Der SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs warf dem Innenministerium vor, es habe das Auswärtige Amt absichtlich nicht in die brisante Türkeibewertung einbezogen. „Fehler passieren, hier wirkt es halt eher gewollt“, sagte er dem „Handelsblatt“.

Ob gewollt oder nicht, die Veröffentlichung setzt die Bundesregierung unter Druck. Die Opposition fordert bereits eine Kehrtwende in der Türkeipolitik und einen Stopp des Flüchtlingsabkommens mit Ankara. Doch das lehnt die Kanzlerin klar ab: „Weder Deutschland noch Europa haben Anlass, dieses sinnvolle Abkommen infrage zu stellen“, sagte Regierungssprecher Seibert.