Bangkok/Berlin. In der Provinz Aceh steigt die Zahl der Auspeitschungen drastisch. Die Scharia-Polizei hat eine „Phase der Bestrafung“ ausgerufen.

Mit lautem Pfeifen lässt der „Algojo“, der Vollstrecker, neunmal seinen langen Rohrstock auf den Rücken der 18-jährigen Kiranti niederfahren. Sie trägt ein weißes Büßergewand und hat den „Hidschab“, den Schleier, tief ins Gesicht gezogen. Die junge Frau zuckt bei jedem Schlag und kneift die Augen zusammen. Am Ende der öffentlichen Auspeitschung muss die tränenüberströmte Kiranti gestützt werden. Daneben steht ungerührt Rahma Daniati. Die Chefin der Scharia-Polizei in dem kleinen Ort Aceh Besar sagt: „Wir haben das nicht gemacht, um sie zu demütigen, die Strafe dient als Abschreckung.“

Kirantis Vergehen: Sie war in ihrem Zimmer allein mit einem 16-jährigen Jungen erwischt worden. Der Junge kam wegen seines Alters ungeschoren davon, aber für Kiranti reicht das, um wegen „Khalwat“ (Unzucht) bestraft zu werden. In Aceh registrierte die Menschenrechtsgruppe Amnesty International 108 Fälle von öffentlichen Auspeitschungen im Jahr 2015. Damit ist ein starker Anstieg der öffentlichen Bestrafung in den vergangenen Jahren dokumentiert. Vor rund fünf Jahren gab es in der ganzen Provinz 40 derartige Züchtigungen.

Regeln gelten auch für Christen und Chinesen

Inzwischen kennt die Scharia-Polizei offenbar nicht nur keine Grenzen mehr. Die Auspeitschungen haben System. „Zuerst hatten wir die Phase der Eingewöhnung“, erklärt die Scharia-Polizistin Rahma Daniati, „dann kam die Erziehungsphase, jetzt sind wir in der Phase der Bestrafung.“ Wer gegen die Regeln verstoße, müsse bestraft werden. Das gilt mittlerweile auch für die Christen und Chinesen, die auf der „Terrasse Mekkas“, wie die Provinz auch genannt wird, leben. Im April erhielt eine 60-jährige Christin 28 Stockhiebe, weil sie trotz Verbots in Aceh Alkohol verkauft hatte. Das erregte international Aufsehen, aber ein Behörden­sprecher in Aceh vermeldete stolz: „Das war die erste Nicht-Muslimin, die laut Scharia bestraft wurde.“

Simone Pott von der Welthungerhilfe war nach dem Tsunami im Jahr 2004 für einige Zeit in Aceh, insgesamt waren damals 325 weltweite Hilfsorganisationen vor Ort. „Diese Radikalisierung hat mich sehr überrascht“, sagt sie. „Mit wem ich damals auch alles sprach, ich hatte immer das Gefühl, dass viele die Katastrophe als Chance sehen, Spannungen zu überwinden.“ Sie betont aber, dass sich ihre Organisation wie viele andere auch auf die physische Hilfe konzentrierte. „Wir waren nicht dort, um unsere Werte zu vermitteln.“ Trotzdem hatte sie gehofft, dass durch den regen Austausch auch die Isoliertheit dieser Region aufhören würde. „Aber diese Hoffnung wurde genauso zerstört, wie die auf Frieden im Südsudan.“

Deutsche Touristen kamen mit Ermahnungen davon

Sogar ein Touristenpaar aus Deutschland bekam das im April dieses Jahres zu spüren. Die jungen Frauen hatten sich in knapper Badekleidung an einen der Strände gelegt. Der Auftritt wäre den konservativen Bewohnern freilich auch ohne die Religionswächter schwer aufgestoßen. Sie wurden abgeführt und kamen mit ein paar strengen Ermahnungen davon.

Die Einführung der Scharia-Gesetzgebung in Aceh im Jahr 2001 kam nicht auf Betreiben radikaler Islamisten zustande. Die damalige Präsidentin Indonesiens, Megawati Sukarnoputri, hatte der Region die Einführung der islamischen Gesetzgebung erlaubt und ihr einen Sonderstatus unter den 27 Provinzen des Landes zugesichert. Sie versuchte so den Einfluss der Untergrundbewegung GAM (Bewegung Freies Aceh) zu unterminieren, die für die Unabhängigkeit der Region kämpfte.

Zulassung der Scharia sollte Islamisten befrieden

Alexander Flor von der Nichtregierungsorganisation „Watch Indonesia“ hat sich mit dieser Bewegung lange beschäftigt. „Die GAM gab vor, säkular zu sein, aber war schon immer streng muslimisch.“ Die Regierung in der Hauptstadt Jakarta habe versucht, die Islamisten durch die Zulassung der Scharia zu befrieden. „Aber letztlich haben sie es auch ermöglicht, dass eine gewalttätige Bewegung die wichtigen politischen Ämter besetzen konnte.“ Flor sieht es als praktisch unmöglich an, die Scharia wieder zurückzunehmen. „Die Scharia-Gesetzgebung ist nicht nur wegen der Verletzung der Religionsvielfalt verfassungswidrig, sondern auch wegen der Anwendung von Körperstrafen.“ Seit dem Tsunami 2004 und dem Friedensabkommen, das kurz darauf mit der GAM geschlossen wurde, verschärft die lokale Regierung nahezu jährlich die Gesetze: Mittlerweile dürfen Frauen nur noch seitwärts auf den Rücksitzen von Mopeds Platz nehmen – wenn sie sich überhaupt trauen, die Zweiräder zu besteigen. Denn die Scharia-Polizei achtet streng auf die Einhaltung der Regel, wonach Frauen nur in Begleitung männlicher Verwandter als Beifahrerinnen unterwegs sein dürfen. Auch diese Normen stünden nicht in Einklang mit der Verfassung, sagt Flor.

Aceh ist bislang die einzige Region Indonesiens, in der die Scharia gilt. „Aber es gibt inzwischen im ganzen Land über 300 Regeln, mit denen die Rechte und die Freiheit von Frauen eingeschränkt werden“, sagt die Rechtsanwältin Azriana Rambe Manalu von Indonesiens Nationaler Frauenkommission in der Stadt Banda Aceh. Auch Flor sieht eine Radikalisierung in der gesamten indonesischen Öffentlichkeit, die vor allem durch die Islamistische Partei (PKS) vorangetrieben werde. „Vor allem seit dem Ende der Diktatur 1998, der sogenannten ‚Neuen Ordnung‘“, sagt Flor, „waren viele junge Menschen ohne Orientierung und leichter für radikale Ideen zu begeistern.“

Einfluss des saudi-arabischen Wahhabismus wächst

Dabei gilt Indonesien, das Land mit den weltweit meisten islamischen Einwohnern, bislang als vergleichsweise liberaler Staat: Viele gläubige Muslime beten nicht täglich fünfmal und häufig ist der muslimische Glaube mit lokalen naturreligiösen Riten vermischt – in manchen Regionen hat sich sogar eine Form des Matriarchats erhalten. Doch seit rund 20 Jahren wächst der Einfluss des saudi-arabischen Wahhabismus – auch durch vermehrte Investitionen aus dieser Region. Die Polizei des Landes nutzt beispielsweise das Verbot des Bierverkaufs in kleinen Läden, um in der Provinz Kalimantan auf der Borneo-Insel ein absolutes Alkoholverbot durchzusetzen.

In Aceh ist das alles noch extremer zu beobachten. Der Islam erreichte die Insel schon im 7. Jahrhundert, kurz nach dem Tod Mohammeds. Parallel regt sich aber auch langsam Unmut gegen die Scharia-Hüter. „Scheinbar sind es immer wir, die Armen, die Leute aus den unteren Schichten, die bestraft werden“, sagte der 56-jährige Rajuddin, nachdem er wegen Kartenspiels ausgepeitscht wurde, „dabei haben wir nur zum Spaß Karten gespielt – aber bei schlimmen Verbrechen der großen Leute wird weggeschaut.“