Ankara. Recep Tayyip Erdogans erste Auslandsreise nach dem Putschversuch führt zu Putin. Die Botschaft: Die Türkei braucht den Westen nicht.

Die Massenverhaftungen, mit denen der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gegen seine Gegner vorgeht, seine Pläne zur Wiedereinführung der Todesstrafe, seine Drohung, den Flüchtlingspakt aufzukündigen, die Spannungen mit den Vereinigten Staaten um die Auslieferung des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen: Die Beziehungen der Türkei zum Westen bewegen sich derzeit von einem Tiefpunkt zum nächsten. Umso größeren Argwohn löst in Europa und den USA das für diesen Dienstag geplante Treffen Erdogans mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sankt Petersburg aus. Dass Erdogans erste Auslandsreise nach dem gescheiterten Putschversuch nach Russland führt, ist ein Signal.

Erdogan spielt die russische Karte. Seine Botschaft lautet: Die Türkei braucht den Westen nicht, sie hat Alternativen. Das türkische Außenministerium versichert zwar, der Beitritt zur Europäischen Union bleibe ein strategisches Ziel der Türkei. Erdogan spricht hingegen Klartext: Was die EU-Vertreter sagten, „interessiert mich nicht, und ich höre ihnen nicht zu“. Aber wie realistisch ist Erdogans neue Russland-Politik?

Anti-Europäische Stimmung in der Öffentlichkeit

Die Annäherung passt zu der grassierenden antieuropäischen und antiamerikanischen Stimmung in der türkischen Öffentlichkeit. Viele Türken, auch Erdogan-Kritiker, sind davon überzeugt, dass die USA beim Putschversuch vom 15. Juli ihre Hand im Spiel hatten. Das scheint sich schon daraus zu ergeben, dass der mutmaßliche Drahtzieher, der Prediger Fethullah Gülen, im US-Staat Pennsylvania residiert und bisher nicht ausgeliefert wurde. Auch die Kritik der Europäer an Erdogans „Säuberungen“ wird von vielen als Parteinahme für die Putschisten interpretiert.

Erdogan suchte schon länger den Schulterschluss mit Putin, wohl nicht zuletzt aus einer politischen Wesensverwandtschaft: Das Machtstreben beider Männer und ihr autoritäres Staatsverständnis erinnern an die Ära, als am Bosporus die Sultane und am Roten Platz die Zaren herrschten.

Doch der Flirt wurde jäh unterbrochen, als die türkische Luftwaffe Ende November einen russischen Suchoi-Bomber im syrischen Grenzgebiet abschoss. Putin verhängte daraufhin Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei. Vor allem der Tourismusboykott traf das Land ins Mark. Die Zahl der russischen Besucher, die noch 2015 das größte Kontingent der ausländischen Urlauber stellten, ging im ersten Halbjahr um 87 Prozent zurück. Im Juni schrieb Staatschef Erdogan einen Entschuldigungsbrief, rechtzeitig vor dem Putschversuch. In dem Schreiben bezeichnete er Russland als „Freund und strategischen Partner“.

Eiszeit nach dem Abschuss

Putin, der den Abschuss des russischen Jets noch vor wenigen Monaten als „Dolchstoß“ bezeichnete, Erdogan öffentlich als „Komplizen“ der IS-Terrormiliz geißelte und dessen Familie beschuldigte, sie verdiene am Öl-Schmuggel der Dschihadisten, nahm die Entschuldigung bereitwillig an.

Während in der Putschnacht westliche Regierungen noch abwarteten, wer die Oberhand gewinnen würde, griff Putin als erster ausländischer Staatschef zum Telefon und sicherte Erdogan seine Unterstützung zu. Das hat ihm Erdogan nicht vergessen. Im Licht des gescheiterten Staatsstreichs wird nun sogar der Zwischenfall mit dem russischen Bomber umgedeutet. Hatte Erdogan den Abschuss zunächst gerechtfertigt, verbreitet die türkische Regierung inzwischen die Version, die verantwortlichen türkischen Piloten seien Verschwörer gewesen, der Abschuss Teil des geplanten Putsches gegen Erdogan. So fügt sich im Nachhinein alles harmonisch zusammen.

Gemeinsames Interesse Energiepolitik

Jetzt soll die neue Freundschaft besiegelt werden. Auch Putin spielt nun seine Karte aus: Er hofft, einen Keil in die Nato zu treiben und die Koalition des Westens gegen Russland zu untergraben. „Es ist das erste Treffen seit dem Zusammenbruch unserer Beziehungen. Es wird also mehr als genug Themen geben“, heizt Kreml-Sprecher Dmitri Peskow die Erwartungen an.

Auf den ersten Blick gibt es durchaus gemeinsame Interessen, die für einen Schulterschluss von Türkei und Russland sprechen. Vor allem gehört die Energiepolitik dazu: Russlands Wunsch, mehr Erdgas durch das Schwarze Meer und Anatolien nach Europa zu pumpen, deckt sich mit den Ambitionen Ankaras, die Rolle der Türkei als Energie-Drehscheibe zu stärken. Das Projekt einer neuen Pipeline, Arbeitstitel „TurkStream“, liegt zwar auf Eis, könnte aber wiederbelebt werden. Der Kreml-Konzern Gazprom ist traditionell der wichtigste Gaslieferant der Türkei.

Historisch seit Jahrhunderten Rivalen

Russland baut überdies bei Akkuyu an der Südküste das erste türkische Atomkraftwerk. Das russische Staatsunternehmen Atomstroi­export wird den Reaktor, der voraussichtlich 2019 ans Netz gehen soll, auch betreiben. Im Finanzsektor gibt es ebenfalls Verflechtungen: Die russische Sberbank kontrolliert seit 2012 die türkische Denizbank. Auch das Bestreben, den wachsenden Einfluss des Iran in der Region einzugrenzen, verbindet Erdogan und Putin.

Ansonsten gibt es aber fast keine Gemeinsamkeiten. Historisch sind beide Länder in der Region seit Jahrhunderten Rivalen, die einander immer wieder bekriegten. In der Syrienpolitik stehen sie auf unterschiedlichen Seiten: Putin stützt militärisch das Assad-Regime, Erdogan arbeitet auf seinen Sturz hin. Das erschwert eine Zusammenarbeit im Kampf gegen die IS-Terrormiliz. Auch im Kaukasuskonflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan stehen sich Ankara und Russland diametral gegenüber. Die von Erdogan betriebene Wiederannäherung an Israel passt ebenfalls nicht zu der jetzt beschworenen türkisch-russischen Freundschaft.

Wirtschaftlich ist die EU nicht zu ersetzen

Erdogan mag in Putin ein politisches Vorbild entdeckt haben. Überdies dürfte Russland ein relativ bequemer Partner sein. Vorhaltungen wegen Menschrechtsverletzungen, geknebelter Medien oder autoritären Anwandlungen muss Erdogan von Putin nicht befürchten. Schließlich regiert der sein Land ebenfalls mit eiserner Faust. Ein schlüssiges außenpolitisches Konzept ist hinter dem Flirt aber nicht zu erkennen.

Wirtschaftlich könnte Russland für die Türkei die Europäische Union als wichtigsten Handelspartner und Investor niemals ersetzen. Und ob er mit Nachbarn wie Syrien, Iran und Irak auf den Schutzschild der Nato verzichten will, wird sich selbst Erdogan zweimal überlegen.