Bremen. Kindern verschrieben Ärzte Antibiotika oft nur wegen der Eltern: Das sagt ein Pharmakologe im Interview und spricht von Missbrauch.

Der Pharmakologe Gerd ­Glaeske, Professor an der Universität Bremen, über Ursachen und Nebenwirkungen vorschneller Rezepte.

Eine nicht ernsthaft kranke Frau bekommt 28 Antibiotika in 16 Monaten. Ein Extremfall?

Gerd Glaeske: Ein Ausmaß wie dieses ist mir bisher noch nicht untergekommen. Aber es ist offenbar leider immer noch Alltag in der deutschen Versorgung. Fälle wie dieser offenbaren eine unübersehbare Hilflosigkeit der Ärzte. Man kann doch nicht einfach alles verschreiben, was man hat. Ärzte haben wohl ein Therapiebedürfnis, aber keine Idee für eine effektive Therapie. Dieser Fall verdeutlicht ein Herumdoktern, bei dem immer etwas Neues versucht und gehofft wird, dass ein Medikament einmal anspricht. Ein Antibiogramm zur wissenschaftlichen Absicherung des Arzneimittels wird in den seltensten Fällen gemacht.

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Gerd Glaeske ist © imago/Metodi Popow | imago/Metodi Popow

Was ist Praxis bei deutschen Ärzten?

Kinder bekommen am häufigsten Antibiotika verschrieben, weit mehr als Erwachsene. Auf den ersten Blick hat das mit der Infektanfälligkeit von Kindern zu tun. Wenn man genauer hinschaut, zeigt sich, dass nur selten bakterielle Infektionen im Spiel sind. Nur gegen solche Infekte helfen allerdings Antibiotika, nicht gegen virale Infektionen. Warum also verordnet man bei zehn bis 14 Erkältungskrankheiten, die bei Kindern vorkommen und durch Viren ausgelöst werden, regelmäßig Antibiotika? Viele Ärzte haben offen gesagt: Es geht uns nicht um Therapie, sondern um die Beruhigung der Eltern. Nach dem Motto „Das wird schon nicht falsch sein“. Viel zu viele Antibiotika werden bei minderen Anlässen verordnet. Es ist eine Therapie mit der Schrotflinte.

Was löst diese Verordnungswut aus?

Deutsche Ärzte sagen oft: Wir verordnen ja gar nicht die meisten Antibiotika. Stimmt, in Europa liegen wir im Mittelfeld. Es geht aber nicht um die Gesamtmenge, sondern darum, was ich innerhalb dieser Menge verordne. Ein Beispiel: Bei Infektionen oberhalb des Brustkorbes helfen immer noch Penicilline am besten. Warum kommen dort Cephalosporine, Makrolide oder Gyrasehemmer zum Einsatz? Die Mengen und die Einsatzarten von Antibiotika sind oft nicht nachvollziehbar. Bei Hirnhaut- oder Lungenentzündung brauche ich ein Antibiotikum. Aber bei Infekten der oberen Atemwege oder bei Mittelohrentzündungen doch nicht. Die heilen häufig von selbst. Oder es reicht aus, zwei Tage zu warten und Ibuprofen zu nehmen.

Würden Sie von Missbrauch sprechen?

Ja, das ist eine Form von Missbrauch. Ich verordne eine medizinische Hypothek, die schlimme Folgen haben kann – für Kinder, aber auch für andere Patienten. Es kann eine Dauerbelastung für ihr weiteres Leben sein. Es ist tatsächlich ein Missbrauch von Antibiotika bei bestimmten Indikationen, ein Missbrauch, den der Körper nicht mehr vergisst, ein Leben lang nicht – wie beim Sonnenbrand. Medizin sollte Folgebelastungen für Patienten vermeiden. Genau das wird hier sträflich vernachlässigt. Die verordnenden Ärzte übersehen, dass eine falsche Antibiotikatherapie ein lebenslanges Problem werden kann – durch immer mehr und immer neue Antibiotikaresistenzen, die entstehen.

Fahrlässigkeit, Unwissenheit, Dummheit?

Bei manchen Ärzten sicher eine Mischung aus allem. Bei vielen herrscht der Irrglaube vor, dass aus jedem Virusinfekt auch eine bakterielle Infektion erwächst. Tatsächlich ist das bei den wenigsten Erkrankungen der Fall. Man muss sich als Arzt merkwürdig fühlen, wenn man nach Holland schaut, wo die MRSA-Resistenzen bei 1 Prozent liegen. Bei uns sind es 20 Prozent. Anders gesagt: In Deutschland besteht ein 20-fach höheres Risiko, durch leichtfertige Antibiotikaverordnungen gravierende Folgeschäden zu erleiden – weil in Holland eine andere medizinische Kenntnis vorherrscht. Und ein Gesundheitssystem, bei dem nicht jeder macht, was er will, sondern wo gezielt verordnet wird.

Warum ignorieren die meisten Ärzte den Wirksamkeitstest, das Antibiogramm?

Mir sagen die Ärzte immer: Das wird ja nicht bezahlt, das muss ich aus eigener Tasche machen, dafür gibt es keine Abrechnungsziffer. Ich würde immer ein Antibiogramm machen, weil es Arzt und Patienten die Sicherheit gibt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben: für das wissenschaftlich begründete Medikament. Deshalb wäre vor jeder Verordnung ein Antibiogramm vernünftig.