Wien. Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern fordert den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Aber Ankara kontert.

„Nur noch diplomatische Fiktion“ seien die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, sagte der österreichische Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) dem Fernsehsender ORF. „Wir wissen, dass die demokratischen Standards der Türkei bei Weitem nicht ausreichen, um einen Beitritt zu rechtfertigen“, legte er in der Tageszeitung „Die Presse“ nach. Er wolle das Thema am 16. September im Europäischen Rat zur Sprache bringen. „Es braucht ein alternatives Konzept“, fügte der Sozialdemokrat hinzu.

Das Echo aus Ankara ließ nicht lange auf sich warten. „Es ist verstörend, dass seine Kommentare ähnlich wie die der Rechtsaußen klingen“, sagte Europaminister Omer Celik in Anspielung auf die Positionen der rechtspopulistischen FPÖ in Österreich.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann forderte hingegen ebenfalls das Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. „Eine türkische EU-Mitgliedschaft kann überhaupt keine Option sein“, sagte Herrmann.

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Kern will offenbar der FPÖ das Wasser abgraben

Der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, sprach sich allerdings am Donnerstag in einem ARD-Interview für die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus. „Ich sehe nicht, dass es jetzt von Hilfe wäre, wenn wir einseitig der Türkei bedeuten würden, dass die Verhandlungen zu Ende sind“, sagte Juncker.

In Österreich spielt die Innenpolitik eine wesentliche Rolle bei der Auseinandersetzung mit dem Thema. Wegen Unregelmäßigkeiten muss die Stichwahl zum Bundespräsidentenamt am 2. Oktober wiederholt werden. Dort haben die Sozialdemokraten zwar keinen eigenen Kandidaten im Rennen, aber für den neuen SPÖ-Chef und Kanzler Kern geht es indirekt darum, ob sein neuer Rechtskurs, mit dem er der erstarkenden FPÖ das Wasser abgraben will, von den Wählern goutiert wird. Dem sogenannten Kern-Effekt – dem Bonus, der dem neuen Kanzler im Mai zuteil wurde – wird der Sieg des grünen Kandidaten Alexander Van der Bellen in der ersten Stichwahl zugeschrieben. Gewinnt er auch die Wiederholung, spricht das für Kern. Anderenfalls triumphieren die Protestwähler, die für den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer stimmen.

Neue und gleichzeitig alte Wahlkampfthemen sind Einwanderung und „die Ausländer“, wie die Wiener sagen. Hofer hatte kürzlich gefordert, dass Türken bis auf Weiteres nicht mehr in Österreich eingebürgert werden sollen. Die Kern-Botschaft lautet nun: Wir lassen uns von der Türkei nicht erpressen. Er glaube nicht, dass die Türkei das Abkommen mit der EU in der Migrationspolitik aufkündigen werde, auch wenn Ankara stets damit drohe. „Ökonomisch sitzen wir auf dem längeren Ast. Die Türkei ist von uns weitgehend abhängig“, sagte Kern der „Presse“. Europa sei jedenfalls kein Bittsteller. Kern will offenbar der FPÖ das Wasser abgraben, die seit Jahren die Integration von türkischen Einwanderern in Österreich thematisiert. In keinem anderen Land der EU ist die Ablehnung eines Türkei-Beitritts so groß wie in Österreich. Laut dem Eurobarometer aus dem Jahr 2010 waren 91 Prozent der Österreicher strikt dagegen, an zweiter Stelle kam Zypern, an dritter Stelle Deutschland mit 79 Prozent. Mit der Ablehnung des Türkei-Beitritts bekommt man in Österreich also viel Zustimmung. Das weiß Kern.

Türkischer Botschafter einbestellt

Die Ablehnung der Türkei hat auch mit der österreichischen Geschichte zu tun. Die Monarchie verstand sich als Bollwerk gegen das Osmanische Reich und den Islam. So erklärt sich auch der Schwenk zum Schließen der Balkanroute gemeinsam mit den südosteuropäischen Staaten. Die Debatte der vergangenen Jahre war vor allem von der islamophoben Haltung der FPÖ beeinflusst. Sie setzt seit den Anschlägen vom 11. September 2001 zudem auf die orthodoxen Migranten vom Balkan und stellt sich im Balkankonflikt gegen die Muslime, um die Stimmen der Orthodoxen zu bekommen.

Insbesondere die Demonstrationen von Erdogan-Anhängern in Wien haben bei vielen Österreichern für Unmut gesorgt. Kurz nach dem Putschversuch waren am Heldenplatz Kampfparolen wie „Sag es, und wir töten, sag es, und wir sterben!“ für Erdogan zu hören. Außenminister Sebastian Kurz bestellte deshalb sogar den türkischen Botschafter Hasan Gögüs ein und meinte: „Wer sich in der türkischen Innenpolitik engagieren will, dem steht es frei, unser Land zu verlassen.“ Er erwarte, dass türkischstämmige Menschen „loyal gegenüber Österreich“ agierten. Man habe Hinweise erhalten, dass die „Demons­trationen in Österreich direkt aus der Türkei aufgefordert worden sind“. Das sei „absolut unhaltbar“, so Kurz.

Botschafter Gögüs goss hingegen Öl ins Feuer und sprach von „voreingenommener und unfairer Kritik“. „Ein solches Verhalten könnte auch Unterstützung für die Putschisten bedeuten“, sagte er und lobte die Demonstrationen der Erdogan-Anhänger in Wien. Die Türkei habe erwartet, dass nicht nur türkischstämmige Bürger, sondern auch unsere „österreichischen Freunde sich mit Fahnen in der Hand den Protesten überall auf der Welt anschließen“, so Gögüs. Die österreichischen „Freunde“ gehen allerdings auf Konfrontation.

Eingebürgerte Türken wählen traditionell eher Rot

Kern ärgerte sich darüber, dass Erdogan behauptet hatte, dass in Österreich Menschen mit türkischen Wurzeln in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung beschnitten würden. „Ich sehe in diesen Aussagen den Versuch, Emotionen in einem fremden Land zu schüren und Stimmungsmache zu betreiben. Der Umstand, dass in Österreich das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Demonstrationsrecht auch für Minderheiten und politisch Andersdenkende gilt, ist ja genau der Unterschied zur Situation in der Türkei“, schrieb er auf Facebook.

Kern erzählte zudem von Morddrohungen, die er über die sozialen Medien bekomme. „Wir dürfen uns auf keinen Fall einschüchtern lassen. Drohungen, auch Morddrohungen vom rechten Rand und vom radikalen Teil der türkischen Community, sind seit zwei Monaten meine Realität“, stellte er fest.

Doch ist für Kern eine kritische Türkei-Politik auch eine Gratwanderung. Denn die eingebürgerten Türken – etwa 200.000 – wählen traditionell eher Rot. Allerdings fühlen sich laut der Statistik Austria knapp 70 Prozent dieser türkischen Einwanderer nach wie vor „dem Staat, aus dem ich stamme beziehungsweise aus dem meine Eltern stammen“, zugehörig. Nicht einmal ein Drittel empfindet sich als Österreicher.