Berlin. Harry S. wurde wegen Mitgliedschaft in der Terrormiliz IS verurteilt. Er berichtet, wie die Terroristen Anschläge in Europa planen.

In einem Video-Interview verrät Harry S., wie der sogenannte Islamische Staat in Europa agiert und wie er Anschläge organisiert. S. legt dabei ein Netzwerk offen, das wesentlich professioneller und größer scheint als bisher angenommen.

Der 27-jährige Harry S. aus Bremen war im April 2015 nach Syrien gereist, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen und nach der Scharia zu leben. Auch wenn er der Terrororganisation nach eigenen Aussagen abgeschworen hat, verurteilte ihn ein Hamburger Gericht zu drei Jahren Haft wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Im Gefängnis in Oldenburg hat er nun der „New York Times“ ein Interview gegeben.

Darin berichtet S. von seinen Erfahrungen in syrischen Terrorcamps und von den Strukturen, die die Terroristen aufgebaut hätten, um in Europa Anschläge zu verüben. Stimmen die Aussagen von S., dann verfolgt der IS eine Strategie, die bisher so nicht bekannt war. Der Islamische Staat setzt laut Harry S. „saubere Männer“ ein, um Verbindungen zu der Führung im Mittleren Osten zu vertuschen. S. hatte in Syrien selbst Kontakt zum „Geheimdienst“ der Terrormiliz, der Organisatoren, Attentäter und „saubere Männer“ rekrutiert.

Die Organisationsstruktur des IS in Bezug auf Europa gliedert sich nach den Aussagen von Harry S. zusammengefasst in vier Ebenen:

• Die Führung in Syrien und im Irak

• Zwischenmänner mit direktem Kontakt zur Führung

• „Saubere Männer“

• Attentäter

Je nach Hierarchieebene erfüllen die Terroristen unterschiedliche Aufgaben:

Für die Propaganda in sozialen Netzwerken ist die Führung der Terrormiliz in Syrien verantwortlich.
Für die Propaganda in sozialen Netzwerken ist die Führung der Terrormiliz in Syrien verantwortlich. © dpa | Oliver Berg

Die Führung lässt im Mittleren Osten Terroristen ausbilden, produziert Propaganda-Material und liefert den ideologischen Nährboden für das Handeln der Mitglieder. Zur Führung gehört laut der „New York Times“ Abu Muhammad al-Adnani. Er sei nicht nur Chef-Propagandist der Terrormiliz, sondern auch oberster Mann des „Geheimdienstes“. Al-Adnani sucht dem Bericht zufolge aus, wer nach der Ausbildung in Syrien nach Europa geschickt wird, beziehungsweise dorthin zurückgeschickt wird. Laut Harry S. gibt es „Hunderte“ Europäer, die nach ihrer Terror-Ausbildung in die Heimat zurückgekehrt sind. Sie warten womöglich auf weitere Befehle oder nur auf einen abgesprochenen Zeitpunkt für Aktionen des IS.

Die Aussagen von Harry S. decken sich mit den Erkenntnissen zu Pariser Attentaten

Abdelhamid Abaaoud war der Kopf hinter den Anschlägen von Paris.
Abdelhamid Abaaoud war der Kopf hinter den Anschlägen von Paris. © REUTERS | HANDOUT

Die Zwischenmänner verkehren zwischen Europa und dem Mittleren Osten. Diese Terroristen stammen in der Regel selbst aus Europa oder haben lange dort gelebt. Zu diesen „Managern“ gehörte auch der Belgier Abdelhamid Abaaoud, den Ermittler als Planer der Anschläge von Paris am 13. November 2015 ausmachten. Abaaoud pflegte direkte Kontakte zu IS-Kadern in Syrien. Auch mit der Terrorzelle, die die Anschläge in Brüssel im März dieses Jahres durchführte, stand Abaaoud in Verbindung. Während eines Schusswechsels mit der Polizei am 18. November 2015 wurde er erschossen.

Salah Abdeslam mietete Wohnungen an und fuhr die Attentäter von Paris mit einem Mietwagen zu einem Anschlagsort.
Salah Abdeslam mietete Wohnungen an und fuhr die Attentäter von Paris mit einem Mietwagen zu einem Anschlagsort. © imago/ZUMA Press | imago stock&people

Die „sauberen Männer“ setzt der IS ein, um die Spur nach Syrien zu verwischen und die höheren Ebenen der Hierarchie aus dem Visier der Ermittlungsbehörden zu nehmen. Die „sauberen Männer“ arbeiten als Logistiker, Waffenbeschaffer und Organisatoren. Der große Nutzen für den IS liegt jedoch nicht nur in deren Fähigkeiten, sondern in ihren Lebensläufen. Denn, die „sauberen Männer“ sollten bisher nicht als radikale Fanatiker oder Syrien-Reisende aufgefallen sein, wie Harry S. berichtet. Das heißt jedoch nicht, dass diese Mitglieder des IS nicht polizeibekannt sind. Viele von ihnen sind Kleinkriminelle, die illegalen Zugang zu Waffen, gefälschten Ausweisen und Unterschlüpfen haben.

Bei den Anschlägen von Paris spielte der Belgier Salah Abdeslam die Rolle des „sauberen Mannes“. Er kundschaftete Verstecke aus und mietete ein Fluchtauto an. Dabei fühlte er sich wohl so sauber, dass er das Fahrzeug auf seinen richtigen Namen anmietete. Die einzige offensichtliche Verbindung zum IS: sein Freund aus Kindertagen Abdelhamid Abaaoud, mit dem er im Großraum Brüssel als Jugendlicher einige Straftaten begangen hatte.

Auch über „einsame Wölfe“ spricht Harry S.

Die Attentäter sind das letzte Glied in der Befehlskette. Das heißt jedoch nicht, dass die Attentäter nicht ins IS-Netzwerk integriert sind. Nach Angaben der „New York Times“ fand sich bei einem der Attentäter, der sich im November 2015 vor dem Stade de France in die Luft sprengte, ein Zettel mit der Telefonnummer eines Zwischenmannes. Doch während der konkreten Anschlagsvorbereitung in Frankreich und Belgien scheinen diese Kontakte eingefroren gewesen zu sein.

Auch wenn die Aussagen von Harry S. bisher nicht endgültig von Ermittlern bestätigt wurden: auf die Anschläge von Paris und Brüssel bezogen, scheinen sie zu stimmen. In Nordamerika hingegen fahre der IS eine ganz andere Taktik. „Die Amerikaner sind dumm. Dort kommen radikale Muslime viel einfacher an Waffen“, so S. Deshalb brauche der IS die potentiellen Attentäter nur über soziale Netzwerke zu radikalisieren und keine „sauberen Männer“ abzustellen.