Berlin. Die SPD-Abgeordnete Petra Hinz kann sich viel erlauben. Wieso ihr trotz des gefälschten Lebenslaufs niemand das Mandat nehmen kann.

Wenn ihr Gewissen schweigt und die Nerven halten, kann die SPD-Abgeordnete Petra Hinz bis zur Bundestagswahl im September 2017 im Parlament bleiben. Die Frau, die ihren beruflichen Lebenslauf gefälscht hat, muss nichts tun, sich nicht einmal in Berlin sehen lassen, um ihre Diäten zu erhalten, jeden Monat 9082 Euro brutto. Gewählt ist gewählt. Solche krassen Fälle sind selten, kommen aber vor, man redet ungern darüber.

Anruf bei Wilhelm Schmidt, heute Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt, früher Fraktionsmanager der SPD. Mitte der 90er-Jahre – Bonner Zeiten – bekam er einen heiklen Auftrag. Als die Fraktion in Berlin tagte, sollte Schmidt dem Abgeordneten Kurt Neumann auflauern. Neumann war eine bekannte Figur der Berliner SPD und 1994 für den Bundestag gewählt worden. Nur bekam man den Mann dort kaum zu Gesicht. „Er war so gut wie nie erreichbar“, erinnert sich Schmidt, „da sind Sie machtlos“. Das Phantom vor dessen Wohnung abzupassen, war ein letzter verzweifelter Versuch der SPD.

Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen unterworfen

Neumann hat nicht wie Hinz seinen beruflichen Lebenslauf gefälscht. Umgekehrt ist Hinz anders als er im Bundestag aktiv gewesen. Beiden gemein ist, dass sie abrutschten. Gegen ihn liefen mehrere Verfahren, bald wurde er wegen Steuerhinterziehung, Verletzung der anwaltlichen Schweigepflicht, Untreue und Betrug verurteilt. Der Bundestag stand hinten an. Schmidt erfuhr obendrein, dass Neumann eine Wohnung in der Karibik hatte. Da dämmerte es ihm, warum es so schwer war, den Genossen Neumann anzutreffen.

1996 schloss die SPD Neumann aus der Partei aus. Bei den Sozialdemokraten fliegt man dann automatisch auch aus der Fraktion. Es ist das Szenario, das heute Hinz droht. Die SPD hat ihr zuletzt ein Ultimatum gesetzt, das am Mittwoch ablief. Wenn sie ihr Mandat nicht niederlegt, will man ein Parteiausschlussverfahren einleiten. Neumann behielt 1996 sein Mandat und harrte, nun parteilos, volle zwei Jahre im Hohen Haus bis zur nächsten Wahl aus. Der Mann verstieß nicht gegen Gesetze, nur gegen Anstandsregeln.

Abgezogen wird bei Fehlen nur Aufwandsentschädigung

Artikel 38 Grundgesetz ist eindeutig. Abgeordnete sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden „und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Zwar sind sie laut Geschäftsordnung verpflichtet, „an den Arbeiten des Bundestages teilzunehmen“. An jedem Sitzungstag wird deswegen eine Anwesenheitsliste ausgelegt. Doch für das unentschuldigte Verpassen eines Sitzungstages werden ihnen nur 200 Euro aufgebrummt, für das unentschuldigte Verpassen einer namentlichen Abstimmung 100 Euro abgezogen – von der Aufwandspauschale. Das ist keine Sanktion, eher eine logische Folge: Wer schwänzt, hat keinen Aufwand und kann für nichts entschädigt werden.

Einen Vorteil hat die Anwesenheitsliste dann doch: Mit ihr kann man Leute an den Pranger stellen. Leute wie Carl-Eduard von Bismarck. Er zog 2005 als Nachrücker für die CDU in Schleswig-Holstein in den Bundestag ein, um danach seine Aufgaben sträflich zu vernachlässigen. Der Mann war in Berlin wie für die Partei vor Ort ein Phantom. Erst ließen sich Parteifreunde vertrösten, er habe es „im Rücken“, aber dann sprach sich herum, dass er sich eine Harley-Davidson gekauft hatte und durch die Gegend tourte. Irgendwann gaben die Christdemokraten jede Zurückhaltung auf und gingen an die Öffentlichkeit, „Spiegel“, „Panorama“ berichteten, „Bild“ titulierte den Politiker als „faulsten Abgeordneten“. Der Volksvertreter hielt zweieinhalb Jahre durch, erst dann legt er sein Mandat nieder. Zweieinhalb Jahre kassierte er Diäten. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert.

Edathy zog einen sauberen Trennungsstrich

Streit mit der Partei kommt vor, ebenso, dass Abgeordnete abtauchen, zum Beispiel Sebastian Edathy (SPD). Wobei der Mann, gegen den die Justiz ermittelte, einen sauberen Abgang hinlegte und sein Mandat zurückgab. Selten ist jedenfalls, dass eine Fraktion von sich aus einen Abgeordneten ausschließt. Sie verliert nicht nur eine Stimme und Einfluss auf einen Parteifreund, sondern auch Geld. Die Zuschüsse für die Arbeit der Fraktionen richten sich nach der jeweiligen Stärke: Wer einen Abgeordneten ausschließt, verliert Geld, pro Jahr 98.616 Euro.

Hinz hat sich krankgemeldet und mitgeteilt, dass sie fünf bis sechs Wochen stationär behandelt werden müsse. Frühestens im September käme sie dazu, ihre Ankündigung wahr zu machen und ihr Mandat niederzulegen. Dann wäre ein weiteres Amtsjahr im Bundestag vollendet, mithin würden sich ihre Ansprüche auf Übergangsgeld um einen Monat erhöhen. Das Geld steht ihr in jedem Fall zu, Pensionsansprüche kann ihr auch keiner nehmen; seit 2005 sitzt sie im Bundestag. Wenn die SPD ihren Trotz anstachelt, könnte Hinz es sich anders überlegen und als fraktionslose Abgeordnete weiter machen. Das heißt nicht, dass sie sich auf die faule Haut legen müsste oder ihr politisch die Hände gebunden wären. Dafür hat Thomas Wüppesahl gesorgt.

Das Wüppesahl-Urteil stärkt die Rechte der Fraktionslosen

Thomas wer? Normalbürgern sagt der Name nichts, Verfassungsrechtler kennen das „Wüppesahl-Urteil“. Wüppesahl war bei der Wahl 1987 über die Landesliste der Grünen von Schleswig-Holstein in den Bundestag eingezogen, trat im Mai 1987 aus der Partei aus und wurde am 26. Januar 1988 aus der Fraktion ausgeschlossen. Wüppesahl blieb nicht nur, sondern wehrte sich auch gegen seine Abberufung aus allen Ausschüssen, außerdem beanspruchte er Redezeit. Er zog nach Karlsruhe und erstritt einen Mindeststandard an Rechten für fraktionslose Abgeordnete.