Kairo. Die syrische Stadt Aleppo steht vor dem Fall. Hunderttausende bangen um ihr Leben. Und Machthaber Assad ist so stark wie lange nicht.

Die Lage in der seit Monaten belagerten syrischen Stadt Aleppo wird dramatisch. Die syrische Armee hat den Belagerungsring um die einst größte Stadt des Landes immer enger geschlossen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnt vor einer „furchtbaren humanitären Katastrophe“. „Hunderttausende Menschen sind in Aleppo von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Die humanitäre Lage ist katastrophal“, sagte er am Freitag in Berlin. „Wer wie das syrische Regime mit Flächenbombardements die Krise auslöst und gleichzeitig ungesicherte Fluchtwege anbietet, der treibt ein zynisches Spiel.“

Die syrische Armee und ihre russischen Verbündeten hatten vor gut zwei Wochen die letzte Versorgungsroute in die Rebellenviertel von Aleppo gekappt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind zwischen 200.000 und 300.000 Menschen von der Außenwelt abgeschlossen. Internationale Hilfsorganisationen befürchten eine Katastrophe, weil es an Lebensmitteln und medizinischer Versorgung fehle.

Wichtige Nachschublinie wurde gekappt

Die Stadt wird von den Rebellentruppen gehalten – doch Kremlchef Wladimir Putin und Syriens Machthaber Bashar al-Assad hatten die Rückeroberung Aleppos nie aus den Augen verloren. Die UN-Friedensgespräche in Genf dienten ihnen als Deckmantel. Bisweilen mussten sie ihre Offensive auf die Stadt durch kurze, von den USA erzwungene Feuerpausen unterbrechen. Mitte Juli war es dann soweit, als es den beiden Alliierten erstmals seit vier Jahren gelang, die letzte Nachschubstraße zu kappen und die Rebellenviertel der zweitgrößten Stadt Syriens komplett von der Außenwelt abzuschnüren. Seitdem versuchen ihre Militärs, Panik unter den Eingeschlossenen zu schüren, um sie gefügig zu machen.

Hubschrauber warfen tausende Plastikbeutel mit Marmelade, Tee und Zucker ab zusammen mit Flugblättern, die die Bewohner auffordern, ihre Stadtbezirke zu evakuieren. Drei Fluchtrouten für Zivilisten sowie eine für bewaffnete Rebellen sind auf den Zetteln markiert, die alle auf Territorien des Regimes enden. Moskaus Verteidigungsminister Sergei Shoigu etikettierte das Ganze als „groß angelegte humanitäre Operation“, während Damaskus allen Kämpfern Amnestie zusicherte, wenn sie sich ergeben und ihre Waffen aushändigen. Die meisten jedoch trauen dem Regime nicht und fürchten, eine Kapitulation mit Gefängnis oder Tod zu bezahlen.

„Uns steht das Schlimmste erst bevor“

„Rausgehen oder nicht – jede Minute diskutieren wir darüber“, zitierte die „New York Times“ den örtlichen Fotografen Luay Barakat. Mit ihrer Aktion wollten Russland und Assad-Regime der internationalen Gemeinschaft lediglich Sand in die Augen streuen, argwöhnte ein anderer Aktivist. Für die eingeschlossenen Menschen aber bedeute diese Ankündigung, „dass uns das Schlimmste noch bevorsteht“.

Die Vereinten Nationen (UN) forderten, die Evakuierung der Stadt müsse in ihre Hände gelegt werden. „Das ist unser Job“, sagte der UN-Syrien-Gesandte Staffan de Mistura.

Doch Bashar al-Assad triumphiert – eine komplette Rückeroberung Aleppos ist in greifbare Nähe gerückt. Den Rebellen dagegen droht eine verheerende Niederlage, die eine entscheidende Wende in dem mehr als fünfjährigen Bürgerkrieg bedeuten könnte. Das Regime bräuchte nicht mehr ernsthaft über eine Teilung der Macht zu verhandeln. Und die verbliebenen 300.000 Bewohner im aufständischen Teil der einstigen Handelsmetropole wären den Machthabern hilflos ausgeliefert.

Erst Anfang der Woche hatten die Rebellen zwei weitere Vororte an die Regierungstruppen verloren, unter anderem, weil sie gleichzeitig von kurdischen Einheiten angegriffen wurden, die an anderen Fronten mit US-Spezialkräften kooperieren. Eine Rückeroberung der für den Ostteil Aleppos lebenswichtigen Castello-Straße ist inzwischen völlig illusorisch. Mitte der Woche konnte das Assad-Regime auf diesem Nachschubkorridor zur türkischen Grenze erstmals wieder eigene Kontrollpunkte installieren. Der Straßenbelag ist durch den permanenten Bombenhagel so stark zerstört, dass normale Autos, geschweige denn Lastwagen mit Lebensmitteln oder Medikamenten ihn nicht mehr befahren können.

Kaum noch medizinische Versorgung möglich

„Es ist ein Desaster, das die Menschen in Aleppo in jedem Winkel ihres Lebens betrifft“, zitiert die Website „Syria direct“ den lokalen Reporter Ammar al-Halabi. Die Lebensmittelpreise steigen ins Astronomische. Auf den Märkten häufen sich die Handgemenge. Frisches Obst und Gemüse sind praktisch nicht mehr zu bekommen, während Regime und russische Luftwaffe die Wohnviertel rund um die Uhr bombardieren.

Allein in dieser Woche wurden vier weitere Kliniken beschädigt. Die Berichte von Mitarbeitern seien „entsetzlich“, erklärte die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, deren letzte Hilfslieferung Ende April die stark zerstörte Stadthälfte erreichte. Bis zu 50 Verletzte pro Tag würden momentan in die verbliebenen Krankenhäuser gebracht. „Wenn die Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen nicht aufhören, wird es im Osten Aleppos bald keinerlei medizinische Versorgung mehr geben.“ Der Zivilschutz beschwor die Familien, „in ihren Häusern zu bleiben und alle Lichter zu löschen“, berichtet Abdelkareem al-Omar, Helfer aus dem Stadtteil Atareb. „In Atareb gibt es kein Leben mehr“, sagte der 28-Jährige. „Nur noch Trauer, Verzweiflung und Angst.“