Berlin. EU-Kommissar Günther Oettinger mahnt die Türkei: Kein Land kann EU-Mitglied werden, wenn es die Todesstrafe einführt, stellt er klar.

Kaum ein Tag ohne Hiobsbotschaft für Europa. Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger, der nach dem versuchten Putsch in der Türkei unsere Berliner Redaktion besucht hat, sieht schon die nächsten dunklen Wolken aufziehen – ein Scheitern der Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada.

Herr Oettinger, die ganze Welt schaut auf die Türkei. Wie wird der Putschversuch das Land verändern?

Günther Oettinger: Präsident Erdogan hat eine demokratische Legitimation. Europa steht hinter den gewählten Amtsträgern in der Türkei. Wir erwarten allerdings, dass sie diesen Putsch nicht nutzen, um Fakten zu schaffen, die mit Rechtsstaat und Demokratie unvereinbar sind.

Genau danach sieht es aber aus.

Oettinger: Meine Sorge ist, dass sich die innere Spaltung der Türkei vertieft. Dennoch sollten wir die bestehenden Gesprächsfäden aufrechterhalten. Das betrifft zum einen die Zypern-Frage, bei der wir einer Lösung übrigens sehr nahe gekommen sind, und zum anderen die Flüchtlingsaufgabe.

Wir erleben einen Putsch nach dem Putsch – gegen den türkischen Rechtsstaat.

Oettinger: Erdogans Bemerkung, der Putsch sei ein Gottesgeschenk, finde ich makaber. Ich habe große Zweifel, ob es mit einem Rechtsstaat vereinbar ist, Tausende Richter vorzeitig in den Ruhestand zu schicken. Erdogan festigt in diesen Stunden innenpolitisch seine Position – und isoliert sich außenpolitisch.

Wie bewerten Sie Mutmaßungen, Erdogan habe den Militärputsch womöglich selbst inszeniert?

Oettinger: Dafür gibt es keine belastbaren Indizien.

Ist es nicht naiv, in der Flüchtlingskrise weiter auf Erdogan zu bauen?

Oettinger: Man kann sich die Partner nicht immer aussuchen. Manche trauern sogar den alten Zeiten mit Gaddafi nach, der alles andere als ein Demokrat war, aber Terroristen in Libyen keine Chance gegeben hat. Er hat auch nicht zugelassen, dass Schlepperorganisationen die libyschen Häfen nutzen. Das ist jetzt anders.

Die Türkei ist und bleibt wichtig in der Flüchtlingskrise, sagt Günther Oettinger.
Die Türkei ist und bleibt wichtig in der Flüchtlingskrise, sagt Günther Oettinger. © Reto Klar | Reto Klar

Mit Verlaub: Das ist Leisetreterei.

Oettinger: Nein, wir äußern ja Kritik an der Türkei. Aber wenn wir allzu strenge Maßstäbe anlegen, können wir mit vielen Ländern nicht kooperieren. Die Türkei ist nun einmal wichtig in der Flüchtlingskrise.

Was bedeutet das für die Verhandlungen über die Visafreiheit für türkische Staatsbürger?

Oettinger: Der Gesetzentwurf liegt im Europäischen Parlament. Ich sage allerdings voraus, dass wir zum Jahreswechsel noch keine Regelung zur Visafreiheit haben werden. Erdogan muss uns beim Thema Rechtsstaatsprinzip entgegenkommen, und danach sieht es gerade nicht aus. Es kann nicht sein, dass Immunität von Abgeordneten aufgehoben wird, um sie drangsalieren zu können. Es kann nicht sein, dass Journalisten eingeschüchtert werden. Und es kann nicht sein, dass missliebige Richter zu Tausenden aus dem Verkehr gezogen werden. Die Unabhängigkeit der Richter ist ein hohes Gebot.

Ankara erwägt, die Todesstrafe wieder einzuführen. Könnten dann die Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäischen Union fortgeführt werden?

Oettinger: Die Todesstrafe ist mit unserer Werteordnung und unseren Verträgen nicht vereinbar. Kein Land kann Mitgliedstaat der EU werden, wenn es die Todesstrafe einführt.

Die Türkei bleibt erst einmal Beitrittskandidat, während Großbritannien zum Austrittskandidaten geworden ist. Trägt Brüssel eine Mitschuld am Ausgang des Brexit-Referendums?

Oettinger: Der Webfehler wurde schon 2005 gemacht, als David Cameron mit europafeindlichen Positionen den Vorsitz der Konservativen Partei in Großbritannien errang. Irgendwann glaubte er, die Erwartungen seiner Anhänger einlösen zu müssen – und setzte dieses Referendum an. Ich sage nicht, dass wir in Brüssel fehlerfrei sind. Aber ich bin in keiner Form bereit zu akzeptieren, dass das, was Cameron sich und seinem Land eingebrockt hat, zuallererst in Brüssel zu verorten sei.

Welchen Status soll Großbritannien bekommen?

Oettinger: Das Vereinigte Königreich ist ein wichtiger Markt für die europäische Wirtschaft. Unser Interesse ist daher, die Binnenmarktregeln für Großbritannien so weit wie möglich zu erhalten. Aber es wird kein Rosinenpicken geben.

Reicht das, um mögliche Nachahmer abzuschrecken?

Oettinger: Nach der Brexit-Erfahrung werden sich die Regierungschefs hüten, weitere Referenden zu veranstalten. Wer die EU verlässt, verliert Autorität auf der Weltbühne.

Das wird die Populisten nicht sehr beeindrucken …

Oettinger: Es reicht nicht, wenn die Berufseuropäer für die EU werben. Jetzt sind alle gesellschaftlichen Kräfte in der Pflicht, zu einem europafreundlichen Klima beizutragen: jeder Abgeordnete, jeder Minister, jeder Landrat, jeder Handelskammerpräsident, jeder Gewerkschaftsvorsitzende, jeder Bischof.

Hilft es, jetzt mehr Europa zu fordern?

Oettinger: Es ist nicht überzeugend, einfach mehr Europa zu plakatieren. Aber die Vorteile einer gemeinsamen Terrorismusbekämpfung oder eines einheitlichen Asylrechts liegen auf der Hand.

Vielleicht schätzen Sie die Stimmung falsch ein. Sie wollten ja auch den nationalen Parlamenten die Mitsprache bei den umstrittenen Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada verweigern …

Oettinger: Was wir mit TTIP und CETA machen, ist kurzfristig gedacht. Die EU-Kommission hat dem Wunsch der Mitgliedstaaten nachgegeben. Jetzt sitzen die Mitgliedstaaten aber auch auf dem Fahrersitz. Und ich sehe das Risiko, dass sie den Karren an die Wand fahren.

„Wer die EU verlässt, verliert Autorität auf der Weltbühne“, sagt Oettinger.
„Wer die EU verlässt, verliert Autorität auf der Weltbühne“, sagt Oettinger. © Reto Klar | Reto Klar

So wenig Vertrauen?

Oettinger: Im Vertrag von Lissabon haben die Mitgliedstaaten den Handel zu einem europäischen Kompetenzfeld erklärt. Und das Freihandelsabkommen mit Kanada ist nach Einschätzung unserer Juristen kein gemischtes Abkommen, bedarf also nicht der Ratifizierung durch jeden Mitgliedstaat. Trotzdem geht man jetzt diesen Weg – und will nicht nur nationale, sondern auch regionale Parlamente beteiligen. Dann können wir gleich noch die Kreistage fragen oder die Kirchengemeinderäte. Europa verliert doch jede Autorität in internationalen Verhandlungen, wenn klar ist, dass das Regionalparlament der Wallonie oder der Landtag von Baden-Württemberg alles blockieren können.

Sind CETA und TTIP tot?

Oettinger: Nein, das kann alles noch gelingen. Ich habe aber schlimmste Befürchtungen, wenn ich höre, wie einige Sozialdemokraten über die Abkommen reden.
Demokratie heißt auch Mehrheitsprinzip. Und wissen Sie, woher der Widerstand wirklich kommt?

Von der Sorge um europäische Standards, nehmen wir an.

Oettinger: Die Deutschen zeigen eine Art Hassliebe zu den USA. Ganz gleich, wie das
etwa mit den Schiedsgerichten ausgeht – die Deutschen finden immer ein Haar in der Suppe.

Es geht um Antiamerikanismus?

Oettinger: So sieht es aus. Aber ich sage Ihnen eins: Wenn TTIP nicht kommt, werden die Standards für den Welthandel nicht mehr europäisch-atlantisch geprägt, sondern asiatisch-pazifisch. Und dann gute Nacht, Europa!