Ankara. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan plant wohl rückwirkend die Todesstrafe. Damit würde er gegen die Verfassung verstoßen.
Bei seinem Vorgehen gegen die Urheber des gescheiterten Militärputsches vom vergangenen Wochenende will sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan offenbar über internationale Rechtsnormen hinwegsetzen – wie den Grundsatz, dass Strafbestimmungen nicht rückwirkend verschärft werden dürfen. „Das türkische Volk hat klar gemacht, dass es den Tod für die Terroristen will, die den Coup geplant haben“, sagte Erdogan in einem Interview des TV-Senders CNN. „Die Leute wollen, dass den Putschisten ein schnelles Ende gemacht wird“, so Erdogan.
Eine Vorentscheidung über die Wiedereinführung der 2004 in der Türkei abgeschafften Todesstrafe könnte an diesem Mittwoch fallen, wenn nacheinander in Ankara das Kabinett und der Nationale Sicherheitsrat tagen. Erdogan kündigte eine „wichtige Entscheidung“ an. Zahlreiche EU-Politiker, darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, warnen, eine Rückkehr zur Todesstrafe bedeute das Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Auch der Europarat kündigte an, das Land müsse dann die Organisation verlassen, in dessen Statuten das Verbot der Todesstrafe festgeschrieben ist.
Unterstützung aus der Opposition
Erdogan scheint aber entschlossen, sich darüber hinwegzusetzen. Wenn das Parlament die Rückkehr zur Todesstrafe beschließe, werde er als Präsident den Beschluss sofort unterzeichnen und damit in Kraft setzen. Die ultra-nationalistische Oppositionspartei MHP hat der Regierung bereits ihre Unterstützung zugesichert: „Wenn die AKP dazu bereit ist, machen wir mit“, sagte der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli am Dienstag in einer Fraktionssitzung seiner Partei. Mit Unterstützung der MHP hätte die Regierung 357 Stimmen. Das würde reichen, um im Parlament mit einer Dreifünftelmehrheit eine Änderung des Verfassungsartikels 38 zu beschließen, mit dem die Todesstrafe vor zwölf Jahren abgeschafft wurde. Anschließend müsste die Verfassungsänderung zwar noch in einer Volksabstimmung bestätigt werden. An einer Mehrheit besteht aber angesichts der aufgeheizten Stimmung nach dem Putschversuch und der großen Unterstützung für Erdogan kaum ein Zweifel.
Bei vielen Versammlungen nach der Niederschlagung des Coups hatten Demonstranten mit Sprechchören wie „Hängt sie“ und „Wir wollen die Todesstrafe“ die Hinrichtung der Verschwörer gefordert. Auf dem Istanbuler Taksim-Platz bauten Demonstranten einen symbolischen Galgen auf, an dem eine Puppe baumelte. Erdogan zeigte Sympathie für die Forderung nach Hinrichtungen: „Warum sollte ich sie (die Putschisten) jahrelang im Gefängnis halten und füttern? Das fragen die Leute“, sagte der Präsident in dem CNN-Interview. Auch Premierminister Binali Yildirim zeigte Verständnis für die Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe: „Die Botschaft des Volkes ist für uns ein Befehl“.
Bruch mit Europa hätte unabsehbare Folgen
Maßvoller äußerte sich Yildirim allerdings am Dienstag bei einem Treffen mit Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. Zwar müsse man „den Provokateuren unverzüglich die nötige Antwort geben“, sagte Yildirim. Unrecht könne aber nicht mit einem anderen Unrecht vergolten werden. „Die Türkei ist ein Rechtsstaat. Alles wird im Rahmen der Gesetze gelöst“, versprach der Premier.
Der Putschversuch in der Türkei 2016
Aus Erdogans Ankündigungen geht allerdings hervor, dass die Regierung offenbar die Todesstrafe rückwirkend wiedereinführen möchte, um die Urheber des Staatsstreichs vom 15. Juli hinrichten zu lassen. Das wäre nicht nur ein Verstoß gegen die türkische Verfassung, sondern auch eine Verletzung des Artikels 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Er bestimmt, dass „keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden darf“. Sollte Erdogan sich tatsächlich darüber hinwegsetzen, würde das den Bruch mit Europa bedeuten – mit unabsehbaren Folgen für die türkische Wirtschaft, die Sicherheitsinteressen der EU und den Flüchtlingspakt.
Präsidialsystem könnte kommen
Erdogan scheint aber nicht bereit, außenpolitische Rücksichten zu nehmen. Er sieht jetzt offenbar die Chance, seine Macht weiter zu festigen. Beobachter erwarten, dass Erdogan die Gunst der Stunde nutzt und nun schnell eine Verfassungsänderung auf den Weg bringt, die neben der Wiedereinführung der Todesstrafe auch die Einführung eines Präsidialsystems mit erheblich erweiterten Befugnissen für ihn als Staatschef vorsieht.
Bereits am Tag nach dem gescheiterten Putsch hatte er die Verschwörung als einen „Segen Gottes“ bezeichnet, weil sie ihm den Anlass zu umfangreichen „Säuberungen“ liefere. Bisher wurden nahezu 15.000 Armeeangehörige, Polizisten, Richter, Staatsanwälte und andere Staatsbedienstete abgesetzt. Auch 30 Provinzgouverneure enthob die Regierung ihrer Ämter. Im Amt von Ministerpräsident Yildirim traf es fast jeden zehnten der dort 2600 beschäftigten Mitarbeiter. Mehr als 7500 Menschen wurden in Gewahrsam genommen. Unter den Festgenommenen ist auch ein Militärberater Erdogans: Der Oberstleutnant Erkan Kivrak wurde in seinem Urlaubsort Antalya festgenommen, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Was ihm vorgeworfen wird, ist unklar.
Türkei beantragt Auslieferung von Gülen
Es handelt sich um die größte „Säuberungswelle“ seit der Machtübernahme der Militärs im September 1980. Offenbar sieht Erdogan jetzt die Chance, gegen Anhänger und Sympathisanten seines Erzfeindes Fethullah Gülen vorzugehen – um dessen Auslieferung sich die Regierung in den USA bemüht, wo der islamische Reformprediger seit 1999 lebt. Justizminister Bekir Bozdag sagte am Dienstag, man habe vier Dossiers mit Belastungsmaterial gegen Gülen in die USA geschickt. Gülen und Erdogan waren in den 2000er-Jahren enge Verbündete, bis sie sich 2013 überwarfen.
Erdogan wirft Gülen vor, er habe über seine Anhänger in der Türkei „parallele Strukturen“ aufgebaut und auf seinen Sturz hingearbeitet. Erdogan sieht in Gülen den Drahtzieher des Putschversuchs. In der Türkei droht dem Geistlichen ein Prozess wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung. US-Außenminister John Kerry hatte angekündigt, man werde ein Auslieferungsersuchen prüfen, sofern die Türkei Beweise gegen Gülen vorlege. Der Gelehrte rechnet selbst nicht mit seiner Auslieferung. Die USA seien ein Rechtsstaat. „Ich glaube nicht, dass diese Regierung irgendetwas Beachtung schenken wird, das rechtlich nicht einwandfrei ist“, sagte Gülen in einem Interview.